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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1178–1180

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Luserke-Jaqui, Matthias

Titel/Untertitel:

»Ein Nachtigall die waget«. Luther und die Literatur. Tübingen: Narr Francke Attempto 2016. 239 S. Geb. EUR 32,80. ISBN 978-3-7720-8590-1.

Rezensent:

Christopher Spehr

Im Umfeld des Reformationsjubiläums 2017 erschien eine Vielzahl (populär-)wissenschaftlicher Veröffentlichungen, welche zwar die Bücherregale füllten, doch weder einen wissenschaftlichen Er­kenntnisgewinn ventilierten, noch gute Unterhaltung boten. Zu den erfreulichen Ausnahmen zählt das vorgelegte Werk, das nicht nur unterhaltsam zu lesen ist, sondern auch neue Perspektiven in ein bereits mehrfach bestelltes Feld einzeichnet. Umsichtig und mit dem Gespür für das Wesentliche widmet sich Matthias Lu-serke-Jaqui, Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt, der Rezeption und Wirkungsgeschichte Luthers in der Literatur. Dem Experten für die Perioden des Sturm und Drangs und der Weimarer Klassik (u. a. »Schiller-Handbuch«, 2005; »Handbuch Sturm und Drang«, 2017) gelingt es, das literarische Lutherbild im Wandel der Geschichte darzustellen und an exponierten Beispielen zu vertiefen.
Eingeleitet wird die in fünf Kapitel gegliederte Studie durch fa­cettenreiche Bemerkungen zu »Martin Luther und die Literatur« (13–28), indem L.-J. einerseits auf Luthers Sprachgewalt und Literaturproduktion, andererseits auf die literarische Rezeption des histo-rischen und des durch die Jahrhunderte kulturell geformten Luthers hinweist. Dass Luther Gegenstand in Lyrik, Prosa und Dramatik – aber bis ins 20. Jh. hinein nicht von Tragödien noch Komödien – war und ist, überrascht nicht, wohl aber die Tatsache, dass der Reformator kaum von Vertretern der »Höhenkammliteratur« (18) literarisch verarbeitet wurde. Als Desiderat der Forschung beklagt L.-J. zu Recht fehlende jüngere Überblicksdarstellungen zu Lutherdramen (19 f.). Luthers Haltung zur Dichtung und deren funktionale Indienstnahme für die Verkündigung des Evangeliums thematisiert L.-J. ebenso wie die Einsicht, dass der Reformator die »Poetik« (und auch die »Logik« und »Rhetorik«) des Aristoteles wertgeschätzt und sogar als Predigthilfe empfohlen habe (25). An die Einleitung schließt L.-J. exkursartig sechs Thesen über die Deutung von literarischen und religiösen Texten an, in denen er Gemeinsamkeiten zwischen Literaturwissenschaft und Theologie beispielsweise hinsichtlich der Lehre vom »zweifachen Textsinn« (30), aber auch Differenzen hinsichtlich des Wahrheitsanspruchs ausmacht.
Mit dem zweiten Kapitel beginnt L.-J. seine chronologischen Ausführungen über die literarischen Luther-Bilder. Relativ knapp handelt L.-J. unter der Überschrift »Zwischen Bekenntnis und Verachtung« die Luther-Rezeption in der Frühen Neuzeit ab (33–61). Die Ausführungen stützen sich auf Texte von Lazarus Spengler, Eobanus Hessus und Thomas Murner sowie auf Hans Sachs’ titelgebende »Wittenbergisch Nachtigall« (1523), die eingehend interpretiert und motivgeschichtlich – bis hin zu Friedrich Spees »Trutz- Nachtigal« (1649) – analysiert wird. Als gegenreformatorische Texte bezieht L.-J. Simon Lemnius’ Publikationen und Luthers Reaktionen darauf mit ein, bevor Martin Rinckarts »Schuldramen« (54 f.) aus dem späten 16. und frühen 17. Jh. skizzenhaft erörtert werden und über das Luther-Bild insgesamt geurteilt wird: »Luthers Be­deutung verschiebt sich von der Person weg auf das Werk« (59). Aufgrund dieses geradezu als prophetisch gewerteten Werkes er­hält der Reformator kanonisches Ansehen. Er wird heroisiert und sakralisiert. Unbefriedigend sind hingegen die Ausführungen zu Pietismus und Orthodoxie (61), in denen u. a. ein unscharfer Pietismusbegriff und ein düsteres Bild der lutherischen Orthodoxie ventiliert werden.
Im dritten Kapitel interpretiert L.-J. das »neue« Luther-Bild im 18. Jh. (62–92) im Spannungsfeld von »Desakralisierung und Neuentdeckung Luthers« (65) u. a. anhand von Johann Andreas Cramer, Lessing, Herder, Novalis und Goethe. Charakteristisch für diesen Wandel – jenseits von Nationalpathos oder Heiligen- und Legendengeschichtsschreibung – wird eindrücklich aus »Götz von Berlichingen« (1773) die Figur des »Bruder Martin« herausgearbeitet. Mit Goethes »minimalistischem Konzept des ›Bruder Martin‹« wird »der große Reformator […] wieder zum Bruder Mensch« (27) und somit zu einem (literarischen) Individuum. Für L.-J. wird durch Goethe die Vermenschlichung Luthers vollzogen. Dass dieser As­pekt gleichwohl bereits in der Lutherwerkausgabe von Johann Georg Walch enthalten ist, hätte zur rezeptionsgeschichtlichen Einordnung Goethes beitragen dürfen.
Das vierte Kapitel steht unter der spannungsreichen Überschrift »Zwischen Hymnik und Trivialisierung« und befasst sich mit dem Luther-Bild des 19. Jh.s (93–155). Hier sind die 94 Luther-Dramen zu nennen, die für Luther-Festspiele und Jubiläumsfeiern verfasst worden waren und oft Trivialliteratur boten. In der differenzierten Wahrnehmung der Literatur liegt L.-J.s Stärke. So bietet er beispielsweise überraschende und kaum bekannte Einblicke in Hölderlins erst 1916 aus dem Nachlass veröffentlichte »Luther-Hymne« (1802/6) und kontrastiert diese im Anhang abgedruckte (218–220) mit Zacharias Werners Drama »Martin Luther oder die Weihe der Kraft« (1807), das ein appellatives Trivialbild zeichnet und als »einzig erfolgreiches Theaterstück der Literatur der Ro­mantik« in die Geschichte einging (103). Dass nicht alle Luther-Dramen erfolgreich waren, belegt L.-J. anhand der Diskussion um das Drama »Luthers Entscheidung« (1817) des Erfurters Heinrich Schorsch, das in Weimar nach journalistischem Protest (»Schickt es sich, Luther auf die Bühne zu bringen?«) abgesetzt wurde. Die berühmte Novelle »Michael Kohlhaas« (1810) von Heinrich von Kleist ordnet er völlig zu Recht der Traditionslinie des minimalisierten Luther-Bildes zu. Goethe, Heine, Fontane und Nietzsche runden das differente und keineswegs nur auf den deutschen Na­tionalheld zielende Luther-Bild ab.
Im fünften und letzten Kapitel (156–217) wird das Luther-Bild der Moderne anhand von August Strindbergs »Die Nachtigall von Wittenberg« (1903), Ricarda Huchs »Luthers Glaube« (1916), Thomas Manns Vorarbeiten zur Komödie über »Luthers Hochzeit« (1954/55) oder Jochen Kleppers Fragment gebliebenem Roman »Katharina von Bora« (1935/42) entfaltet. Nicht allein diese Klepperinterpretation, dessen Text L.-J. in einer feinen Edition 2017 im Rhein-Mosel-Verlag wieder herausbrachte, und die Interpretation von John Os­borns englischem Drama »Luther« bieten zahlreiche Anregungen für weitere Forschungsarbeiten. Überhaupt enthält dieses Werk, das durch eine Zeittafel, ein Quellen- und Sekundärliteraturver zeichnis sowie ein Personenregister abgerundet wird, zahlreiche Kleinodien, die eine Bereicherung der Luther- und Reformationsforschung bilden.