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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1153–1155

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kujanpää, Katja

Titel/Untertitel:

The Rhetorical Functions of Scriptural Quotations in Romans. Paul’s Argumentation by Quotations.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. VIII, 374 S. = Novum Testamentum. Supplements, 172. Geb. EUR 145,00. ISBN 978-90-04-38129-2.

Rezensent:

Christoph Stenschke

Seit drei Jahrzehnten gehört der Gebrauch des Alten Testaments im Neuen Testament zu den Dauerbrennern neutestamentlicher Wissenschaft. Es gibt kaum ein biblisches Buch, kaum eine methodische Frage sowie kaum eine Frage zur rhetorischen Funktion dieses Bezugs, die nicht in extenso diskutiert wurde und wird. Wegen seiner vielen direkten Zitate und Anspielungen auf das Alte Tes-tament gilt dem Römerbrief besondere Aufmerksamkeit. Seinen direkten oder expliziten Zitaten und ihrer Funktion in der Argumentation des Briefs ist auch die Dissertation (University of Helsinki, 2018) von Katja Kujanpää gewidmet: »This study explores how quotations may help Paul to articulate his views, to anchor them in scriptures, to increase the credibility of his argumentation, and underline his authority as a scriptural interpreter.« (1)
Der Forschungsüberblick skizziert Studien zum textlichen Ur­sprung der Zitate und der Genauigkeit der Zitation, zu der Form der Paulus vorliegenden Texte und zum möglichen Wissen des Apostels, dass die alttestamentlichen Texte in unterschiedlichen Rezensionen zirkulieren (textual pluriformity). Hilfreich ist K.s Einteilung der Forschung in intertextuell/narrative Studien (»studies united by their interest in interaction between scriptures and Paul’s letters and in the Old Testament context of Paul’s intertextual references«, 13), die die Zitate von ihrem ursprünglichen literarischen Zusammenhang her verstehen wollen, um von daher den paulinischen Gebrauch zu verstehen, da Paulus erwartete, dass die Leser vorhandene intertextuelle »Echos« hören können und werden. Andere Studien haben einen eher rhetorischen Fokus und verstehen die Zitate als rhetorische Mittel, die Paulus verwendet, um seine Argumentation effektiv zu gestalten. Zitate sind »a rhe-torical device he uses to promote his agenda (rather than ›inviting‹ his audience to listen to scriptural voices and thus encouraging their own interpretive activity)« (16). Ferner bietet K. Definitionen, diskutiert die paulinischen Anpassungen des Wortlauts eines Zi­tats, allgemein die literarischen und rhetorischen Funktionen von Zitaten (24–26; ein Abschnitt, der angesichts des Fokus der Arbeit ausführlicher sein müsste; lediglich zwei Theorien aus der mo-dernen Literaturwissenschaft werden präsentiert, Untersuchungen zur Funktion von Zitaten in anderen antiken Schriften fehlen) und die von Paulus vorausgesetzten Leser.
Im Hauptteil der Studie untersucht K. die Zitate der Reihe nach (31–289). Sie unterscheidet dabei zwischen den 43 Zitaten, die in Abschnitten mit hoher Zitationsdichte, etwa Röm 9–11, erscheinen, und den vier Zitaten, die entweder in Paaren erscheinen, oder den vier Zitaten, die für sich alleine stehen (299–331). Leitfragen sind dabei die jeweilige Funktion der Zitate in der Argumentation (1.), ob Paulus genau nach einer ihm bekannten Textfassung zitiert oder selbst den alttestamentlichen Wortlaut seinem eigenen Kontext anpasst (2.), wie sich die Funktion eines Zitates zu seinem ursprünglichen literarischen Zusammenhang verhält (3.) und welche Schriftkenntnis seitens der Leser nötig ist, um der Argumentation des Paulus zu folgen (4.).
Im Resumée (337–343) zeigt K., dass der paulinische Gebrauch von Zitaten im Römerbrief durchweg von Vielfalt gekennzeichnet ist. Dies gilt zunächst für die argumentative Funktion der Zitate. Sie dienen dazu, um mit der Schrift die eigenen Aussagen zu be-stätigen. Ferner erscheinen Zitate anstelle von eigenen Aussagen und dienen der Konstruktion des eigenen ethos, d. h. der eigenen Glaubwürdigkeit als Lehrer und erfahrener Ausleger der Schrift. Weiter unterstreichen die Zitate die grundlegende Kontinuität zwischen der Schrift und der paulinischen Theologie; auf diese Weise fungieren sie als Bestärkung der Übereinstimmung zwischen Autor und Lesern (»By quoting from a source of authority that unites Paul with the intended audience, he highlights their common ground«, 334). Aus rhetorischer Perspektive bringen Zitate stilistische Variation, Lebendigkeit und Eloquenz in den Argumentationsgang. Als intensivierende Katenen mehrerer Zitate oder in ihrer Funktion als gewichtige Schlussfolgerungen strukturieren sie zudem die Argumentation.
Die Vielfalt zeigt sich auch im Umgang mit dem Wortlaut des Zitates. In der Mehrzahl der Fälle hat Paulus den Wortlaut absichtlich angepasst, damit die Zitate mit ihrer neuen Funktion in der Argumentation des Römerbriefs übereinstimmen. Anstatt im ganzen Brief einem einheitlichen Muster zu folgen, hat Paulus, je nach argumentativem Ziel, die Zitate flexibel miteinander kombiniert. Vielfalt kennzeichnet auch den Umgang mit dem ursprünglichen literarischen Kontext der Zitate. An einigen Stellen ist der unmittelbare Zusammenhang von Bedeutung, an anderen Stellen ist eine tiefgehende Dekontextualisierung erkennbar, denn »Decisive as­pects of the original literary context would be unhelpful or would even seriously undermine the validity of Paul’s argumentation. […] It appears clear that Paul does not invite metaleptical readings in these cases; the quotations are unproblematic as long as the audience reads them in the light of their new surroundings and leaves the original literary context aside.« (336 f.) Auch die Erwartungen an die Kompetenz der Leser sind vielschichtig. Zudem lässt sich erkennen, dass Paulus die Bedeutung der Zitate aktiv zu bestimmen sucht: Er wählt aus, welche Wörter eines alttestamentlichen Abschnitts zitiert werden und welche nicht; in 30 der 51 untersuchten Zitate finden sich Änderungen am Wortlaut; »they appear to communicate what Paul wishes them to communicate« (339). K. gelingt es zu zeigen, dass »despite the power that scriptural voices gain through direct quotations, Paul wishes to remain in control of the message that emerges when those voices intermingle with his own words« (343). Zudem schafft Paulus einen neuen Rahmen für die zitierten Aussagen, der die Leser darin lenkt, wie das Zitat verstanden werden soll. Im Verständnis der Intention des Paulus müssen daher die Hinweise des Apostels für die Interpre-tation den Vorrang gegenüber dem ursprünglichen literarischen Kontext der Zitate haben.
K. legt eine umfangreiche und methodisch reflektierte Untersuchung vor. Ihr Beitrag liegt dabei weniger in der Originalität der Fragestellung oder in überraschenden Einzelergebnissen, was nach langer intensiver Arbeit am Gebrauch des Alten Testaments und der inhaltlich breit angelegten Untersuchung kaum verwundert. Neue Vorschläge finden sich etwa zum Wortlaut der Zitate in Röm 10,15 (das Zitat geht auf eine vorpaulinische, hebraisierende LXX- Rezension zurück; Paulus hat diese Version dem größeren argumentativen Zusammenhang angepasst; ferner findet sich Hap-lographie); Röm 11,3–4 (212–226; die Zitate enthalten vier Vorkommen einer vorpaulinischen Lesart, die wahrscheinlich auf eine jüdische hebraisierende Rezension zurückgeht; die meisten Ab­weichungen gehen allerdings auf Paulus zurück; einige Modifikationen hängen mit der erkennbaren Absicht des Paulus zusammen und stärken die Analogie mit seiner Zeit und Erfahrung) und Röm 11,35 (der Wortlaut geht nicht auf Hiob 41,3 zurück, sondern auf Jes 40,14). Dennoch bietet K.s Studie eine hervorragende Analyse der bisherigen Forschung sowie einen wertvollen Überblick über die Zitate im Römerbrief und ihrer jeweiligen rhetorischen Funktion, so dass man sie bei der exegetischen Arbeit mit Gewinn heranziehen wird.
Insgesamt ist die Arbeit zu breit angelegt. Sie hätte von deutlicherer Konzentration auf die Frage nach der rhetorischen Funktion der Zitate profitiert (erste Leitfrage). Bei den anderen Leitfragen hätte sie knapp auf den Forschungsstand zurückgreifen und dafür stärker Fragestellungen und Methoden des rhetorical criticism aufgreifen und anwenden können (nicht als Analyse des Briefs nach den Kategorien antiker Rhetorik, sondern als allgemeinere Argumentationsanalyse verstanden, wie etwa in der nordamerikanischen Forschung im Gefolge der Studien von C. Perelmann und L. Olbrechts-Tyteca). Eine enger umrissene Perspektive hätte zu mehr neuen Einsichten geführt. Zu ergänzen wäre, welche Funktion die anderen direkten Verweise auf das Alte Testament bzw. die Anspielungen in der Argumentation haben, etwa die selektive Darstellung des Glaubens Abrahams in Röm 4 als Paradigma für die Rechtfertigung aus Glauben bzw. für christliche Existenz als unbedingtes Festhalten an den Verheißungen Gottes.