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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1145–1147

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ossandón Widow, Juan Carlos

Titel/Untertitel:

The Origins of the Canon of the Hebrew Bible. An Analysis of Josephus and 4 Ezra.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. X, 274 S. = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 186. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-90-04-38160-5.

Rezensent:

Alma Brodersen

Juan Carlos Ossandón Widows »The Origins of the Canon of the Hebrew Bible. An Analysis of Josephus and 4 Ezra« vergleicht zwei am Ende des 1. Jh.s n. Chr. entstandene Texte, die als älteste erhaltene Erwähnungen der Anzahl von Büchern im Kanon der Hebräischen Bibel gelten: Josephus’ »Contra Apionem«, das 22 Bücher erwähnt, und das 4. Esrabuch (4Esr 3–14), das 94 mit 24 öffentlichen und 70 nichtöffentlichen Büchern erwähnt. Der englischsprachigen Monographie liegt die vom Vf. aus dem Spanischen übersetzte und überarbeitete Dissertation zugrunde, die er 2016 am Pontificio Istituto Biblico bei Joseph Sievers abschloss.
Die Einleitung enthält einen Überblick über die Forschung zur Entstehung des Kanons der Hebräischen Bibel. Der Vf. erwähnt die Gefahr einer modernen kanonischen Brille (16), gleichzeitig sei aber ein Ansatz historischer Forschung in der Gegenwart unvermeidbar. Wichtig sei daher eine Auseinandersetzung mit den Prägungen der Gegenwart zur Vermeidung von Anachronismen. Den Begriff »Ju­daism« ersetzt der Vf. durch »Jewish people« (4), um auf die antike ethnische statt moderne religiöse Konnotation hinzuweisen. Zu »Codex« (18) notiert er, dass im Gegensatz zur heutigen Vorstellung eines gedruckten Buches für Josephus und den Autor des 4. Esrabuches Bücher Schriftrollen gewesen seien. Unter dem Begriff »Hebrew Bible« (19) versteht der Vf. die heutige Hebräische Bibel aus 24 Bü­chern in drei Teilen (Tora, Propheten und Schriften). Trotz des anachronistischen Bibelbegriffs behält er den Ausdruck »Hebrew Bible« aus pragmatischen Gründen bei. Für den Begriff »Canon« (22) weist der Vf. ebenfalls auf einen Anachronismus hin und darauf, dass die in der Forschung häufig gemachte Unterscheidung von offenen Schriften und einem geschlossenen Kanon wichtig, aber nicht genug sei: »what is needed is a reflection on what is meant by a holy book« (24). Im größeren Rahmen der Frage »when, how, and why the collection of twenty-four books of the Hebrew Bible was established« (29) lautet die Hauptfrage der Arbeit mit Blick auf Josephus und 4. Esra »what do these two authors exactly state about the number of sacred books, and why do they say it?« (29).
Im ersten Hauptteil »The Twenty-Two Books of the Jews Ac-cording to Josephus« wird Josephus’ Apologie »Contra Apionem« (datiert auf 94–100 n. Chr.) behandelt, darin insbesondere die relevante Passage 1,37–45. Einem Überblick über die Struktur des Gesamtwerks folgt die Einordnung der Passage und ihr Text in englischer Übersetzung. In dieser Passage würden 5 Bücher des Mose, 13 Geschichtsbücher von Propheten und 4 weitere Bücher mit Hymnen und Lebensweisheiten, also insgesamt 22 Bücher, erwähnt. Die Ab­weichung von der heutigen Zahl von 24 Büchern sei erklärbar durch die Zusammenzählung von Richtern und Rut sowie Jeremia und den Klageliedern; möglich sei aber auch, dass Josephus einige heute im Kanon der Hebräischen Bibel befindlichen Bücher nicht kannte (z. B. Hiob, Prediger und Hohelied). Dass nach Josephus die Bücher aus der Zeit nach Artaxerxes durch das Ende der prophetischen Sukzession weniger verlässlich seien, »looks like a concept created ad hoc to justify a fact difficult to explain, that is, the interruption of the historical narrative in the Persian period« (57). Nach der Analyse von »Contra Apionem« werden kurz weitere Schriften des Josephus, nämlich der »Jüdische Krieg«, die »Jüdischen Altertümer« und die »Vita« besprochen. Der Vf. stellt fest, dass nach dem Gesamtwerk des Josephus dieser das 1. Esrabuch (aber nicht das biblische Esrabuch) kannte, was zeige, dass die 22 Bücher nicht mit denen der Hebräischen Bibel deckungsgleich sein müssten.
Im zweiten Hauptteil »The Ninety-Four Books of the Torah Ac­cording to 4 Ezra« behandelt der Vf. das ans Ende des 1. Jh.s n. Chr. datierte 4. Esrabuch (4Esr 2–13), beginnend mit einer Inhaltszusammenfassung dieser jüdischen Apokalypse und einem grundlegenden Forschungsüberblick. Im 4. Esrabuch würden 94 Bücher erwähnt, von denen 24 öffentlich zugänglich seien, weitere 70 Bücher als »added value« (154) nur für wenige, die ihrer würdig seien. Der Tora-Begriff sei in 4. Esra weit gefasst, alle 94 Bücher bildeten die ewige göttliche Tora ab. Die Identifikation der 70 Bücher sei unklar und eventuell absichtlich offen gelassen: »the figure of seventy, even in a merely symbolic sense, seems too broad to describe the literature of a closed group that would wish to reject all other works then in circulation« (174). Die Identifikation der 24 Bücher mit denen der Hebräischen Bibel als damals existierende Sammlung sei wahrscheinlich, auch wenn die Kenntnis dieser Sammlung nicht die An­erkennung ihrer Autorität bedeute. Eine kanonische Geschlossen heit dieser Sammlung würde vom 4. Esrabuch abgelehnt, weshalb die 70 weiteren Bücher erwähnt würden.
Im Schlussteil »Comparison and Conclusions« stellt der Vf. fest, dass die etwa zeitgleiche Erwähnung von 22 und 24 Büchern bei Josephus und 4. Esra ähnlich sei, ebenso das Fehlen zahlensymbolischer Erläuterungen und die Erwähnung nur der Anzahl von Büchern ohne Aufzählung ihrer Namen oder Inhalte. Beide Quellen erwähnten ferner göttliche Inspiration beim Verfassen der Bücher, aber keinerlei menschliche Institutionen (seien es jüdische Autoritäten oder irgendeine Form der Abgrenzung von christlichen Strömungen). Es gebe aber auch Unterschiede zwischen den Quellen: So unterteile nur Josephus die 22 Bücher weiter in drei Kategorien, während in 4. Esra alle 94 Bücher die Tora enthielten. Ferner gelte Esra in 4. Esra als letzter Prophet, während es nach Josephus nach Artaxerxes keine Propheten mehr gegeben habe. Der wichtigste Unterschied aber sei der folgende: Josephus akzeptiere eine geschlossene Liste von 22 Bü­chern, 4. Esra sei gegen eine geschlossene Liste von 24 Büchern, weshalb er 70 weitere Bücher nenne. Die Idee einer geschlossenen Sammlung – angenommen von Josephus, abgelehnt von 4. Esra – sei aber in beiden Texten erstmals belegt.
Das Werk des Vf.s zeichnet sich durch sorgfältige Argumentationen, ausführliche Begründungen und eine fundierte Auseinandersetzung mit aktueller Forschungsliteratur aus. Anachronismen können dabei trotz der kritischen Begriffsreflexion in der Einleitung nicht völlig vermieden werden: So berücksichtigt der Vf. bei der Gleichsetzung von Schriftrollen und Büchern für das 1. Jh. n. Chr. (18) nicht, dass Rollen mehrere Bücher enthalten können (z. B. 4Q1, 4Q17). Auch die kanonische Brille kommt weiter vor, indem eine Identifikation der 70 nichtöffentlichen Bücher in 4. Esra nur außerhalb heute kanonischer Texte gesucht wird, während die 24 öffentlichen nur mit heute biblischen Büchern verglichen werden (170–184). Obwohl der Vf. feststellt, dass die Kenntnis von Schriften nicht mit der Anerkennung ihrer Autorität gleichzusetzen ist, wird nur die Kenntnis als Grund für den angenommenen Einschluss in der erwähnten Anzahl von Büchern genannt (178–179).
Insgesamt bietet das Buch (mit Bibliographie sowie Autoren- und Quellenregister) fundierte Beiträge zur Problematik der Be­griffe »Kanon« und »Bibel« und dazu ausführliche Textanalysen von Josephus’ »Contra Apionem« und dem 4. Esrabuch.