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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1142–1145

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Oorschot, Jürgen van, u. Andreas Wagner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gott und Mensch im Alten Testament. Zum Verhältnis von Gottes- und Menschenbild. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 324 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 52. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-05399-5.

Rezensent:

Jan Dietrich

Der vorliegende Band enthält die Beiträge der vierten Tagung der Projektgruppe »Anthropologie des Alten Testaments« der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, die dankenswerterweise die Konferenzen der Projektgruppe seit 2014 fördert (mit Ausnahme der anderweitig geförderten Konferenz von 2018). Die Projektgruppe traf sich unter der Leitung von Jürgen van Oorschot (Erlangen) und Andreas Wagner (Bern) vom 11. bis 13. Mai 2017 in Bern zum Austausch mit Hilfe von Referaten und Responses, die zur Grundlage für die Beiträge des vorliegenden Bandes über das Verhältnis zwischen Gottes- und Menschenbild wurden. Leitfragen zielten auf zu bedenkende Wechselwirkungen zwischen Monolatrie und Monotheismus auf der einen, Identität, Individualismus, Selbstreflexion und Ethik auf der anderen Seite – Leitfragen, die von den Referenten und Re­spondenten exemplarisch anhand von Auswahltexten behandelt wurden. Nach einem kurzen Vorwort von Jürgen van Oorschot (5) sind die Beiträge des Bandes in die vier Blöcke (I) Gott und Mensch, (II) Tora, (III) Jesaja und Daniel sowie (IV) Psalmen und Weisheit aufgeteilt.
Den Beginn des ersten Blocks (Gott und Mensch) bildet Christian Frevels grundlegender Beitrag Gott ist kein Mensch der lügt (13–43). Der Einstieg über Num 23,18–24 wird genutzt, um das Verhältnis von Gottes- und Menschenbild, Univozität, Analogie und Äquivozität zu besprechen und im Rahmen der Projektionstheorie darauf hinzuweisen, dass eine (biblische) Rede von Gott ohne Anthropomorphismen unmöglich wäre, dass selbst die negative Theologie der Analogie bedarf und dass »das Faktum der Projektion« (17) für die Geschichtlichkeit Gottes unverzichtbar ist. Ähnlich wie die weniger häufigen Theriomorphismen dienen auch Anthropomorphismen dazu, etwas über Gottes Wirkweisen und seine Relationalität zur Welt auszusagen. Relationalität ist auch eine wichtige anthropologische Kategorie, weil sie den Menschen als »in Beziehung hineingeschaffen« versteht, anstatt ihn von der Gottebenbildlichkeit her zu denken, die nach Frevel »keine zentral bestimmende Funktion in der alttestamentlichen Anthropologie hat« (27). Die »ethische Mimesis« des Heiligkeitsgesetzes und die Teilhabe am Gottesglanz in den Psalmen machen deutlich, dass der Mensch nicht von Gott her gedacht ist und als Gott handelt, sondern dass »Bestimmung und Formung des Menschen auf Gott hin« (31) geschehen und der Mensch wie Gott handeln soll. Negierte Anthropomorphismen (Hos 11,9 u. a.) stellen die Differenz zwischen Gott und Mensch mit Hinweis auf die Reue Gottes und seine Geschichtsmächtigkeit heraus.
Einen kurzen religions- und geistesgeschichtlichen Beitrag liefert Andreas Wagner unter dem Titel Bedingt die Monotheisierung des Gottesbildes die Ethisierung des Menschenbildes im Alten Testament? (45–54) Am Beispiel des Amosbuches wird der geistesgeschichtlich schon häufiger postulierte Zusammenhang zwischen zunehmenden monotheisierenden Tendenzen im Laufe der Religionsgeschichte und einem in der alttestamentlichen Literaturgeschichte ebenfalls zunehmenden, religiös begründeten sozialethischen Anspruch aufgezeigt. Die Prophetie stellt dabei »eine Art Wasserscheide in der Ausformung ethischer Grundüberlegungen im Alten Israel dar.« (48)
Unter Biblischer Monotheismus, Blasphemie und säkulare Gesellschaften im 21. Jh. (55–68) schreibt Thomas Staubli einen historisch wie systematisch angelegten Beitrag zur Bedeutung des Blasphemieverbotes. Nachdem er die kollektiv-institutionelle Bedeutung des Blasphemieverbotes herausgestellt und dieses historisch kontextualisiert hat, zeigt er dessen Relevanz insofern auf, als es um den Schutz des Kerns einer Kultur, also der Grundwerte, Institutionen und Verfassungsformen geht, die Gesellschaft und Kultur zu­sammenhalten.
Religionsgeschichtlich und ikonographisch geht Silvia Schroer in ihrem Beitrag Ähnlichkeit und Verwandtschaft von Gott und Mensch (69–80) vor. Sie stellt beim reziproken Ähnlichkeitsmotiv die biologisch-verwandtschaftlich konnotierte und deshalb auch körperlich-ikonographisch sichtbare Ebenbildlichkeit heraus und macht diese geschlechterdifferenziert an Texten wie Gen 5,1 f. und ikonographischem Material wie syrisch-palästinischen Stempelsiegeln deutlich. Ute Neumann-Gorsolke hebt in ihrer Response (81–85) unter anderem die funktionale Bedeutung der Textaussagen hervor, von denen man nicht ohne Weiteres auf biologistische Blutsverwandtschaft schließen könne.
Im Anschluss an ihre Dissertationsschrift fragt Katrin Müller in ihrem Aufsatz Etwas anderes mit denselben Worten sagen? (87–101) nach der Bedeutung der Aussagen zur næfæš Gottes. Aufbauend auf den Erkenntnissen der kognitiven Linguistik hebt sie hervor, dass die sozialanthropologische Bedeutung von næfæš auch bei Gottesaussagen eine Rolle spielt, um die Zuwendung oder Abkehr Gottes vom Menschen zum Ausdruck zu bringen, dass dies jedoch beim Aspekt der Verletzlichkeit nicht der Fall sei, obwohl er normalerweise zur kognitiven Domäne beim Konzept næfæš dazugehört: Dieser Aspekt von næfæš kommt nur in den Aussagen zum Menschen (und zum Tier), nicht jedoch in Bezug auf Gott vor.
Zu Beginn des zweiten Blocks (Tora) liefert Michaela Bauks mit ihrem Beitrag Gottesbild und Menschenbild (105–122) eine kommentarähnliche Analyse des Majestätsplurals und Kohortativs in Gen 1,26. Der Exzellenzplural Elohim zeichnet Gott »inmitten der großen Zahl singularisch bezeichneter Geschöpfe« aus (121). Der Pluralis communicationis ist als »residueller Polytheismus im Sinne der Thronratsvorstellung zu verstehen« (113), der sich anaphorisch »auf die Erde als mitschaffende Kraft« bezieht (116) und die mythischen Gestalten der altorientalischen Götterwelt »zu poetischen Bildern oder Metaphern depotenziert.« (120)
Joachim Schaper postuliert in seinem sozialtheoretisch ausgerichteten Beitrag Eine Skizze zur Korrelation von Gottesbild und Menschenbild im Buch Deuteronomium (123–133) eine Korrelation zwischen dem Eifer Gottes und dem Eifer des Individuums, das seiner Ansicht nach im Deuteronomium der spätvorexilischen Zeit durch eine stärkere Vereinzelung gekennzeichnet sei, die er durch das »Aufkommen der Geldwirtschaft« erklärt und mit »der damit einhergehenden, sozial atomisierenden Wirkung des Äquivalententauschs« (129) in Verbindung bringt. Es ist die vor allem sozioökonomisch bedingte Veränderung der Gesellschaft, die Gott als »atomisiertes, selbstgenügsames Subjekt« (133) und unbewusste Projektion des gleichermaßen atomisierten und entfremdeten menschlichen Subjekts ausweist. In ihrer Response (135–138) fragt Andrea Beyer unter anderem nach dem konkreten »Zusammenhang von Individualisierung oder Vereinzelung und Eifer« (135).
In seinem Aufsatz Heiligkeit und Ehre (139–153) vergleicht Matthias Hopf die Heiligkeitsvorstellungen im Heiligkeitsgesetz mit ansonsten im Alten Testament häufig zu findenden Ehrvorstellungen. Die vermittelnde Funktion zwischen Ethos und Recht übernimmt »in H nicht die Ehre, sondern die Heiligkeit.« (143) Trotz zahlreicher Parallelen unterscheiden sich Heiligkeit und Ehre in grundlegenden Fragen, was vor allem die Inklusivität, Egalität, die genuin theologische Anthropologie des Heiligkeitskonzeptes und die fehlende klassische Terminologie zur Ehre im Heiligkeitsgesetz angeht. Ähnlich weisheitlichen Ehrvorstellungen sei auch Heiligkeit nicht als begrenztes Gut, sondern mittels der imitatio Dei als ein allen leicht zugängliches Gut Gottes auszuweisen. In ihrer Response (155–159) fragt Nancy Rahn, wie der Ehre-Scham-Diskurs methodisch kontrolliert auf alttestamentliche Texte angewendet und ob die Heiligkeitsvorstellung in H nicht im Gegensatz, sondern im Rahmen dieses Diskurses als besonderes Beziehungsphänomen angesichts von Gottesnähe verstanden werden kann.
Zu Beginn des dritten Blocks (Jesaja und Daniel) analysiert Bernd Janowski in seinem Aufsatz Die »Übernachtung« der Gerechtigkeit (163–177) das Gottes- und Menschenbild von Jes 1,21–26 und argumentiert für den Bildcharakter und die Übersetzung von V. 21 mit »Wie ist zur Dirne geworden die treue Stadt, erfüllt mit Recht, Gerechtigkeit übernachtete in ihr – jetzt aber Mörder!« Die vorliegende Personifikation spielt wie auch Jes 1,7–10 auf die Sodom-Geschichte an, in der von der Übernachtung der Gäste die Rede ist (Gen 19,2–4), und »überwindet zugleich den damit verbundenen Schock durch den Hinweis auf die frühere wie die künftige ›Übernachtung‹ der Gerechtigkeit in Jerusalem.« (177)
Uta Schmidt beschreibt in ihrem Beitrag Menschen, Engel und Gott (179–192) das hierarchisch ausgeprägte Gottes- und Menschenbild von Dan 7–12. Durch die Hierarchisierung der himmlischen und irdischen Sphäre erscheint Gott entfernt und entzogen, während himmlische Engelwesen Wissensvermittlung übernehmen und anthropomorph erscheinen. Während die irdischen Ereignisse durch Kämpfe in der himmlischen Sphäre entschieden werden, erscheint der menschliche Einflussbereich des irdischen Frommen begrenzt und auf die Rolle des körperlich schwachen, aber exklusiv Wissenden beschränkt.
Den Beginn des vierten und letzten Blocks (Psalmen und Weisheit) macht Judith Gärtners Beitrag Der Gott entsprechende Mensch in Ps 111–112 und Ps 119 (195–211). Sie untersucht die Entsprechungsaussagen zwischen Gott und Mensch in Ps 111 f. und 119. Die in Ps 111 entfalteten göttlichen Qualitäten werden in Ps 112 in differenzierter Weise auf den Menschen übertragen, ablesbar beispielsweise an der Rezeption der Gnadenformel von Ps 111,4 in Ps 112,3–5, wo das Bild eines der Barmherzigkeit Gottes entsprechenden, aufrichtigen und großzügigen Menschen entfaltet wird. Dem in Ps 119 entfalteten Bild von der Tora als einem mehrdimensionalen »Lebensraum« werden »unterschiedlichste Lebenssituationen und Erfahrungen des Beters eingespeist« (209) und Gebetsformulierungen zugeordnet, die in anderen Texten auf Gott bezogen sind. In ihrer Response (213–216) bedenkt Alma Brodersen die Anthropologie in Ps 111 gegenüber der kaum präsenten Theologie in Ps 112; 119 und fragt: »Gibt es in Ps 111–112 und Ps 119 Anthropologie ohne Theologie, aber keine Theologie ohne Anthropologie?« (216)
Die Verhandlungen über Angemessenheit, Möglichkeit und Grenze der drei Bilder Gottes als Herr, Richter und Schöpfer untersucht Thomas Krüger in seinem Beitrag Gottesbilder und Menschenbilder im Buch Hiob (217–232). Alle drei Bilder, überträgt man sie direkt vom menschlichen auf den göttlichen Bereich, werden im Hiobbuch kritisch diskutiert, und eine direkte Übertragung ihrer anthropomorphen und soziomorphen Sinngehalte auf Gott erscheint nur bei analogem oder äquivokem Verständnis sinnvoll.
Jürgen van Oorschot untersucht in seinem Beitrag (Selbst-)Begrenzungen des Menschen um Gottes willen (233–246) die skeptischen Anthropologien des Hiobbuches, die das Menschenbild in seinen existentiellen, religiösen, noetischen und pragmatischen Dimensionen begrenzen und das Gottesbild entsprechend einer docta ignorantia entgrenzen, wobei in der letzten Redaktionsschicht des Buches, der sogenannten Niedrigkeitsredaktion, Theologie und Anthropologie so sehr auseinandertreten, dass das Phänomen der Sünde von der Erfahrungswirklichkeit abgekoppelt wird.
Volker Grunert zeigt in seinem Beitrag Wie der Phönix werde ich viele Tage machen (Hiob 29,18) (247–264) mit Hilfe perserzeitlicher Quellen, wie sehr das Hiobbuch die zeitgenössische Königsanthropologie und ihre Formen »royalis-tischer Selbstdarstellungen« (251) kritisch aufnimmt und »eine Rückeroberung der königsanthropologisch vereinnahmten Schöpfung durch die Theologie« (263) vornimmt. Die zahlreichen, engen wie weiter entfernten Motivparallelen zwischen ägyptischen Funerärtexten und dem Hiobbuch machten deutlich, dass es sich beim Hiobbuch um einen Gegentext zu zeitgenössischen Apotheosen handelt und Hiob eine Entwicklung von der Todessehnsucht über die Selbstrechtfertigung zu einer Lebensbejahung durchmache, die sich mit der eigenen Todesbefallenheit versöhnt.
Schlussendlich erklärt Thomas Wagner in seinem Beitrag »Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig« (265–287), dass im Buch Kohelet enge Parallelen zur kynischen Philosophie bestehen (Monimos, Menippos) und die kosmischen Dimensionen (םלוע) der vollständigen menschlichen Erkenntnis entzogen sind. Partizipieren am םלוע kann der Mensch zu Lebzeiten nur begrenzt durch »Konsum von Nahrungsmitteln als Teilhabe an göttlichen Gaben« (275) sowie durch die Erfahrung von Todesnähe.
Eine Gesamtbibliographie (289–320) und ein Autorenverzeichnis (321 f.) beschließen den Band, der ohne Register auskommt. Einmal abgesehen von der je nach Beitrag variierenden, insgesamt aber großen Anzahl von Rechtschreibfehlern, so ist den Herausgebern und der gesamten Projektgruppe inhaltlich zu diesem Band nur zu gratulieren und zu wünschen, dass von der Projektgruppe noch weitere derart gewichtige Bände zu dem zurzeit florierenden Thema »Anthropologie des Alten Testaments« erscheinen mögen.