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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1125–1126

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Assmann, Jan

Titel/Untertitel:

Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne.

Verlag:

München: C. H. Beck 2018. 352 S. m. 1 Kt. Geb. EUR 26,95. ISBN 978-3-406-72988-1.

Rezensent:

Bernd Janowski

Archäologie ist die Wissenschaft von den Ursprüngen, die übereinandergeschichtet buchstäblich im Boden liegen und durch Grabungstätigkeit ans Licht gehoben werden. An ihnen wird die Herkunft dessen erkennbar, was es mit der Geschichte einer Stadt, von Menschentypen oder von Sitten und Gebräuchen auf sich hat. Darum geht es in Jan Assmanns neuem Buch aber nicht, obwohl es auch hier um Archäologie geht. Der Gegenstand ist vielmehr die »Moderne«, deren Wurzeln der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler aus zugraben und im kritischen Gespräch mit K. Jaspers’ (1883–1969) berühmtem Theorem der Achsenzeit zu evaluieren unternimmt.
Die Theorie einer gemeinsamen »Achsenzeit« der Menschheitsgeschichte, die in der Zeit zwischen 800 und 200 v. Chr. in Indien, im Iran, in Palästina und in Griechenland zu einem kognitiven Schub mit erheblichen Folgewirkungen führte, hat K. Jaspers in seinem 1949 erschienenen Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte entwickelt, nicht zuletzt, um nach dem Zusammenbruch der Kultur in der NS-Zeit der Hoffnung auf ein neues Weltbürgertum Ausdruck zu verleihen (zur Entstehungsgeschichte s. 173 ff.). Eine Achse der Weltgeschichte, so setzt Jaspers ein, scheint »rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß. Dort liegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben. Diese Zeit sei in Kürze die ›Achsenzeit‹ genannt« (zitiert nach der Taschenbuch-Ausgabe München/Zürich 1983, 19).
Und er fährt fort: »In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tese, Lie-Tese und ungezählte andere, – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes.« (Jaspers, 20)
Das Neue an der Achsenzeit ist nach Jaspers der Sachverhalt,
»daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. Er erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung. Indem er mit Bewußtsein seine Grenzen erfaßt, steckt er sich die höchsten Ziele. Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz. […] In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der Schritt ins Universale getan.« (Jaspers, 20 f.)
So weit in Kürze die Hauptthese des Buchs von Jaspers. Erst seit 1975, also erst gut 25 Jahre nach Erscheinen seines Buches, wurde die Achsenzeit zum Thema einer intensiven und bis heute anhaltenden Diskussion (S. N. Eisenstadt, J. Habermas, R. Bellah, H. Joas u. a.). Diese wird von A. sorgfältig rekonstruiert und ihre Anfänge werden gleichzeitig nach vorne bis in das späte 18. Jh. zurückverfolgt. Der Orientalist A.-H. Anquetil-Duperron machte 1771 den Anfang, in­dem er entdeckte, dass Zarathustra, Konfuzius und der griechische Philosoph Pherekydes Zeitgenossen waren, die eine neue weltgeschichtliche Epoche einläuteten (Kapitel 1, 28–41). Diese Gleichzeitigkeit wurde in der Folgezeit durch weitere Namen wie Laotse, Buddha und Parmenides ergänzt (Kapitel 2 bis 8, 42–164, mit eingehenden Porträts der Positionen Hegels, A. Webers u. a.). Erst K. Jaspers baute das Achsenzeit-Theorem zu einem Gründungsmythos der Moderne aus, der im Fokus der Darstellung und vor allem der Kritik von A. steht (Kapitel 9, 165–227; zur Bedeutung der Achsenzeit als Ursprung der Moderne s. 197 ff.).
Wie ist das Ganze zu beurteilen? Die Leitkategorien des Jaspersschen Achsenzeit-Theorems sind Transzendenz, Reflexivität, moralischer Universalismus und Einsicht in die Symbolhaftigkeit der Sprache. Das sind, wie A. zu Recht anmerkt (s. das Unterkapitel »Topoi des Axialen«, 189–197), weitreichende und auch faszinierende Perspek-tiven. Dennoch vermag die Jasperssche Geschichtsschau – abgesehen von ihrem Wert als »regulativer Idee«, den sie zweifellos besitzt – nicht zu überzeugen, weil sie für die Erfassung und historische (!) Einordnung der Einzelphänomene untauglich ist. A. spricht denn auch zu Recht von einem der »großen Wissenschaftsmythen des 20. Jahrhunderts, vergleichbar mit Freuds Lehre vom Ödipus-Komplex, die vieles sichtbar machen und große Zusammenhänge aufdecken, aber andererseits in ihrer Tendenz der vereinerleienden Kategorisierung viel zu weit gehen und wichtige Differenzierungen einebnen« (Ders., Ambivalenzen und Konflikte des monotheistischen Offenbarungsglaubens, in: J.-H. Tück [Hrsg.], Monotheismus unter Gewaltverdacht, Freiburg i. Br. 2015, 246–268, hier 247 f.). Deshalb, so A., »scheint es an der Zeit, den Begriff der Achsenzeit als einer historischen Epoche aufzugeben und den inzwischen verfeinerten Katalog von Kriterien als eine Art Filter zu verstehen, in dessen Licht sich alle, nicht nur die als ›achsenzeitlich‹ ausgewiesenen Kulturen, betrachten lassen. Dieser Filter würde in den analysierten Kulturen die Phänomene hervortreten lassen, die den Kriterien entsprechen« ( Ders., Achsenzeit, 285; zu den hier gemeinten Kriterien s. 189 f.).
A. wird nicht müde, Jaspers’ Buch »großartig« und »bahnbrechend« zu nennen (20.209 u. ö.). Allerdings macht seine Darstellung zugleich deutlich: Anstatt mit einem vagen Epochenbegriff wie »Achsenzeit« zu operieren, ist es angemessener, nach den literarischen Formen und institutionellen Bedingungen einer bestimmten Kultur wie derjenigen Ägyptens, Israels oder Chinas zu fragen, die die geistigen Durchbrüche herbeigeführt haben, von denen Jaspers gesprochen hat. Dies dürfte eine Aufgabe sein, die längst noch nicht abgeschlossen ist (s. dazu die Schlussbemerkungen [290 ff.] mit dem Kurzreferat der These G. Stroumsas, »dass die Spätantike die eigentliche Achsenzeit darstellt«), die durch A.s vorzügliche Darstellung aber ein neues Fundament erhalten hat.