Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1123–1125

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Könemann, Judith, u. Marie-Theres Wacker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Flucht und Religion. Hintergründe – Analysen – Perspektiven.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2018. 272 S. = Münsterische Beiträge zur Theologie. Neue Folge, 1. Geb. EUR 36,00. ISBN 978-3-402-12310-2.

Rezensent:

Andreas Heuser

Der Sammelband geht auf eine Ringvorlesung zurück, die im Wintersemester 2016/17 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster angeboten wurde. Die Herausgeberinnen er­öffnen damit die »Neue Folge« der Reihe »Münsteraner Beiträge zur Theologie«, die Publikationen vor allem aus katholisch-theologischer Sicht zu gegenwartsbezogenen Themen in die Öffentlichkeit einzuspeisen gedenkt. Dieser erste Band der Neuen Folge stellt sich der eminent wichtigen Diskussion um Flucht und Mi­gration, die es spätestens mit Angela Merkels »Wir-schaffen-das«-Redewendung im September 2015 zu ungeheurer medialer Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum gebracht hat. Seither hat sich das politische Klima in ganz Europa gewandelt. Stichworte sind verschärfte Asylgesetzgebungen, die Schließung der Balkanroute und die Erweiterung der Reihe von sogenannten sicheren Herkunftsländern, und generell ein Aufblühen rechtspopulistischer Bewegungen in nahezu allen europäischen Ländern, was mitunter zu Regierungsbeteiligungen geführt hat.
Der Band beleuchtet diese gesellschaftspolitischen Hintergründe, geht aber darüber hinaus auf den Zusammenhang von Migration und Religion verstärkt ein, eine Wechselwirkung, die erst zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus rückt. Somit stellt sich der Band der drängenden Frage, wie ein »gelingendes Zusammenleben unter den Bedingungen kultureller, ethnischer und religiöser Pluralität möglich ist« (8). Alle Beiträge behandeln den engen Konnex zwischen Flucht, Migration und Religion, mit allerdings sehr unterschiedlicher Gewichtung. Gemeinsam ist ihnen, die Ambivalenz von Religion anzuerkennen. Religion kann konfliktverschärfend wirken, aber dient auch als Ressource für gelingendes Zusammenleben und kann enorme zivilgesellschaftliche Tragweite entfalten.
Der Band ist in zwei Hauptteile mit jeweils sechs Beiträgen gegliedert: der erste Teil widmet sich eingehend den politischen und historischen Hintergründen der gegenwärtigen Ausgangs-situation. Die Bandbreite der Themen reicht von Darstellungen der Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten bis zu neuen Gesetzgebungen zu Asyl, Flucht und Migration auf nationalstaatlicher und EU-Ebene, von postkolonialen Ursachengeflechten der Flucht aus afrikanischen Ländern bis zu Fluchtbewegungen aus Osteuropa. Der zweite Hauptteil bringt insbesondere einzelne religiöse Profile im Zusammenhang von Flucht und Migration stärker zum Vor schein. Allerdings liegt der Schwerpunkt auf Christentum und Islam, sowie vereinzelt auf der religiös verfolgten Minderheit der Jesiden. Ich stelle einige Beiträge gesondert vor. Meine Auswahl beschränkt sich auf die beherrschenden Themen in der öffentlichen Wahrnehmung, die sich speziell auf die Flucht und Migration aus Ländern des Nahen Ostens und des subsaharischen Afrika beziehen.
Kenan Engin (Kassel) bespricht die »Drei Wellen der Flucht« aus Syrien (13–31). Er unterteilt in drei Fluchtphasen, wobei die erste sich auf die Binnenflucht bezieht, die mit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 einsetzte. Die zweite Welle umfasst die Flucht in Nachbarländer (Libanon, Jordanien, Türkei, Irak). Diese setzte ein mit der Eskalation des Bürgerkriegs und der Expansion des sogenannten Islamischen Staats (IS) seit dem Jahresende 2012. Die dritte Phase umfasst die Flucht vor allem nach Europa, die seit Mitte 2013 einsetzte im Bewusstsein, dass der Bürgerkrieg kein nahes Ende haben würde. Eingewoben in den syrischen Bürgerkrieg ist die Konfessionalisierung des Konflikts. Dies betrifft zunächst die Verschärfung von sunnitisch-schiitischen Konfliktlinien, die gerade durch islamistisch-sunnitische Propaganda (des IS und AL-Nusra) vorangetrieben wurde. In diesem Gesamtgeflecht kam es zudem zu einer Massenemigration von syrischen Christen. Von den ehemals 2,5 Millionen Christen hatten bis 2017 bereits die Hälfte dem Land den Rücken gekehrt. Alawiten und allein 250.000 Jesiden wurden aus ihren jeweiligen Siedlungsgebieten vertrieben. Die Feindbilder sind nachhaltig. Engin stellt fest, dass die Grundlagen einer friedlichen religiösen Koexistenz auf lange Sicht als »zerstört« anzusehen sind (18). Wolfgang Schonecke beschreibt in seinem Beitrag ausführlich »Flucht und Migration in und aus Afrika« (33–50). Der Beitrag ist wichtig schon allein vor dem Skandal, dass etwa »ein Drittel aller Vertriebenen weltweit sich in Afrika« befindet; entgegen der allgemeinen Wahrnehmung aber schafft es »nur eine sehr geringe Zahl nach Deutschland« und Europa (36). Schonecke kartiert politische, handelspolitische und historische Ursachen der über Jahre anhaltenden Flucht aus subsaharischen Ländern. Zu den vielfältigen Ursachen zählen Formen der Kleptokratie, des Demokratieverlusts, ebenso wie die Mitverantwortung westlicher Staaten – und Geheimdienste – an neokolonialen Machtregimen und repressiven Wirtschaftsstrukturen. Fragwürdige Agrar- und Fischereiabkommen, europäische Exportsubventionierungen nach Afrika werden benannt wie auch spürbare Folgen des Klimawandels und des rasanten Bevölkerungswachstums. Allerdings belässt Schonecke eine spürbare Leerstelle, denn sein Beitrag verzichtet komplett auf eine religiöse Perspektivierung von Migrationsbewegungen in und aus Afrika. Diese Leerstelle wird – leider – in keinem weiteren Beitrag gefüllt.
Demgegenüber skizziert Amir Dziri (Fribourg) eingehend den hohen theologischen Stellenwert von Flucht und Migration in islamischer Theologie (137–156). Dies ist schon deshalb dankenswert, da islamisch-theologische Deutungen des Themenkomplexes »noch ausgesprochen jung(er)« Natur sind (141). Dziri stellt drei typologische Zugänge islamischer Theologie heraus: Ein erster Typ behandelt die Auswanderung des Propheten Muhammad (Hedschra) von Mekka nach Medina als zentralen Topos, jedoch in rein historischer Deutung. Der zweite Typ geht stärker auf systematisch-theologische Grundlagen ein. Migration gilt dann gleichsam als anthropologische Konstante; erst durch Migrationserfahrung gelangt der Mensch zu seiner Vollkommenheit. Beispielsweise gilt der Auszug aus dem Paradies in islamisch-theologischer Sicht nicht als Vertreibung oder Verdammnis, sondern wird vielmehr als »Heruntergehen« gedeutet, als Grunderfahrung des menschlichen Verweilens auf der Erde. Dieser Aspekt einer »Ur-Migration«, so Dziri, »bildet eine der wirkmächtigsten religiösen Grundannahmen islamischer Glaubenslehre« (143). Der dritte Typ schlägt eine mystisch-spirituelle Deutung von Flucht und Migration vor. Sie ist vorgeprägt durch die sufische Zustandslehre. Migration bezieht sich hier auf das Fremdsein in der Welt, bedeutet Diesseitsverzicht oder Abkehr von der Welt mit dem eigentlichen Ziel, nämlich des Eingehens in Gott selbst (in christlicher Mystik als unio mystica bekannt). Aus katholisch-theologischer Sicht benennt Marianne Heimbach-Steins (Münster) die »Konturen einer Ethik globaler Migration« (185–210) im Sinne von drei Vorrangregeln. Dies haben sich seit der spanischen Spätscholastik des 16. Jh.s mit hoher Konstanz in der katholischen Soziallehre ausgebildet. Die Gleichheit der Würde aller Menschen setzt sich um in eine gegenseitige Achtungs- und Anerkennungsethik als »Kinder des einen Vaters«. Die zweite Prämisse handelt von der Priorität der menschlichen Person vor aller gesellschaftlichen Institution, was die Beteiligungsrechte an Gütern wie gleiche Partizipationsrechte am Leben der Gesellschaft einschließt. Schlielich hat das Gemeinwohl Vorrang vor Eigennutz; dieser Vorrang schließt die »Zugangsvoraussetzungen an grundlegenden Gütern für alle Menschen« ein (193, kursiv i. O.).
Kurz: Der Sammelband nimmt hilfreiche Gewichtungen in der aktuellen Debatte um Migration vor, die um die Dimension von Religion erweitert werden. Die Kartierung der religiösen Ressourcen setzt ihrerseits Schwerpunkte, die über diesen lesenswerten Sammelband hinaus unbedingt zu ergänzen sind.