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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1051–1052

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zhang, Deng

Titel/Untertitel:

Angst und Entängstigung. Kierkegaards exis-tenzdialektischer Begriff der Angst, dessen systematischer Hintergrund und philosophiegeschichtliche Wirkung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. X, 212 S. = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 37. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-054550-0.

Rezensent:

Hermann Deuser

Die Frage nach einer Fundamentalontologie hatte Martin Heidegger (Sein und Zeit, 1927) ganz unter dem Einfluss S. Kierkegaards neu gestellt, und umgekehrt wird Kierkegaard seither unter diesem Blickwinkel und in seiner existenzdialektischen Verarbeitung der Philosophie und Theologie des deutschen Idealismus gesehen und interpretiert. Höhepunkte und beste Belege dafür sind die Studien von Michael Theunissen (Der Begriff Ernst bei Søren Kierkegaard, 1958) und Klaus Schäfer (Hermeneutische Ontologie, 1968). Dabei sind es zwei Schriften Kierkegaards, die aus der Fülle der pseudonymen, erbaulichen und theologischen Produktion herausragen und ohne Zweifel von überragender Bedeutung geblieben sind und sein werden: Der Begriff Angst (1844) und Die Krankheit zum Tode (1849), d. h. der psychologische (phänomenologische) Zu­gang über die Begriffe von Angst und Verzweiflung zu einer exis-tenzontologisch begründeten und ausgearbeiteten (fundamentalen) Anthropologie. In diesem weiten Feld übernimmt Deng Zhang eine klar abgesteckte Aufgabe (Dissertation, Dr. phil., FU Berlin): die nüchterne Überprüfung der anthropologischen Strukturen bei Kierkegaard im Ganzen (Kapitel 1: »Die Grundlage der Interpretation«) durch eine textnahe Exegese der Angstabhandlung (Kapitel 2), woraufhin in der Anwendung und zum differenzierenden Vergleich vor allem Kant und Schelling als Repräsentanten des deutschen Idealismus und schließlich Heideggers Fundamentalontologie zum Thema gemacht werden.
Erarbeitet werden also nicht historische, werkgeschichtliche und biographische Einzelheiten, sondern die Aufbauelemente einer Fundamentalanthropologie, zu der Kierkegaards Angstanalysen Anlass geben. Die Aktualität dieser Gesamtthese steht damit im Vordergrund: Kierkegaards Bestimmung des Menschen als Geist aufgrund der Synthese bzw. Relationalität von Leib und Seele, Zeit und Ewigkeit – das Selbst-Verhältnis gegründet in einem »Dritten« (wie dann die Krankheit zum Tode sagt). Im Zeitalter der Digitalisierung, das hat Kierkegaard vorweggenommen, ist diese Bestimmung des Menschen als Geist kaum mehr zu unterscheiden von »Geistlosigkeit«, nur dass die Geistlosigkeit nicht »kraft des Geistes« spricht und den Menschen zu einer »Sprechmaschine« degradiert (124).
Diese Aktualität unterstreicht auch der Titelbegriff der »Ent-ängstigung« (der nicht von Kierkegaard stammt), denn fundamentalanthropologisch entscheidend ist damit die mögliche positive Wendung der negativen Phänomenwelt der Angst bzw. Verzweiflung. Das geschieht im »qualitativen Sprung« (138), der die Möglichkeit der Angst als »Bildung durch die Angst« entdecken lässt (136 f.). Hier wird allerdings nicht instrumentell handelnd irgendwie ›gesprungen‹; also besser nicht formulieren: »Sprung in den Glauben« (14.164), denn das entspricht eher der Sicht von A. Camus oder K. Jaspers (vgl. W. Janke: Existenzphilosophie, 1982), sondern die Wendung geschieht im Sprung, »bricht hervor« (vgl. 74) und ist nicht unter Kontrolle. Dass die fragile Synthesisstruktur im Selbst-Verhältnis das Potential zu Ausgleich und Ruhe hat, bedeutet zu­gleich auch die Entdeckung und den Spielraum der menschlichen Freiheit, die sich aber nicht selbst garantieren kann.
Neu ist auch, dass die Kierkegaard-Interpretation mit einer Philosophie der Gefühle verbunden wird, d. h. »die Angst ist ein typisch menschliches Gefühl, da sie im Wesen des Menschen gründet« (83; vgl. 4 f.71). Kierkegaard hatte in der Einleitung zum Begriff Angst, in seiner Wissenschaftstopographie (10 f.), bereits die jeweilige »Stimmung« zum Schlüssel des Verständnisses erklärt, wobei ihm die damit geforderte Methode der Beobachtung als Psychologie gilt, was heute eher als Phänomenologie zu fassen wäre (72 ff.). Die Vfn. geht dazu ausführlich, sachgemäß und (philosophisch) vorurteilsfrei Kierkegaards »hamartiologischem« Angstbegriff nach, der in seiner zweideutig bleibenden Schwebe als Zugang zum Sündenbegriff gilt. Diese Auslegung der biblischen Sündenfallerzählung führt zur detaillierten Auffächerung der Stufen und Typen von Angst, die in entsprechenden Tabellen übersichtlich dargestellt werden (14.107 f.139–141).
Während der Rückgriff auf Kant (das »Erbe Kants in Kierkegaards Hamartologie« [147 ff.]) und Schelling (Resonanz vor allem der Freiheitsschrift bei Kierkegaard [164 ff.]) die anders gefasste Universalität in Kierkegaards Existenzdialektik profiliert, ist es für Heidegger darum zu tun, diese Universalität von ihrem theologischen Herkommen abzutrennen und umzuprägen (184). Die Angst ist folglich nicht mehr psychologische »Zwischenbestimmung« auf dem Weg zum Sündenbegriff, sondern der ausgezeichnete Zugang zum Wissen um die menschliche Vereinzelung, ihre Verfallenheit, das »In-der-Welt-sein selbst« (vgl. 191).
Es ist die argumentative, sachkritische und weiterführende Textarbeit, die in der Gesamtbetrachtung ebenso wie in immer wieder gut gelungenen Einzelanalysen überzeugt und diese Kierkegaard-Interpretation lesenswert macht (vgl. z. B. zum Begriff der Existenzdialektik [53 ff.] oder zum »Nichts« als Gegenstand der Angst vor und in der Generationenabfolge [92]) – nicht zuletzt zu­gunsten der Frage nach einer angemessenen Fundierung der An­thropologie heute. Jedenfalls gilt schon jetzt, dass Kierkegaard »ein weitaus hoffnungsvolleres Bild der menschlichen Existenz« (194) zeichnet als Heidegger.