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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1049–1051

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schneider, Norbert

Titel/Untertitel:

Grundriss Geschichte der Metaphysik. Von den Vorsokratikern bis Sartre. Eine Einführung.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2018. XII, 554 S. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-7873-3431-5.

Rezensent:

Markus Firchow

»History of Philosophy: Just say no!«, war Ende der 1980er Jahre in Abwandlung von Nancy Reagens einstigem Slogan gegen Drogenmissbrauch an Gilbert Harmans Bürotür in Princeton zu lesen. Galt die Provokation einer kanonischen Rekapitulation tradierter Erkenntnisse, ist sie inzwischen zur Losung einer historisch uninteressierten analytischen Philosophie avanciert. Deren Anhänger bittet Norbert Schneider, ein Kunsthistoriker mit philosophiegeschichtlicher »Passion« (552), um Nachsicht, »wenn ich, zumindest diesmal, in diesem Buch, […] den Slogan […] einmal gegen sie kehre, indem ich im Vordersatz das von ihm Abgewiesene gegen das von ihm Vertretene austausche« (475). Während er die analytische Philosophie in Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts (1998) bedacht hatte, mag er sie in den »Grundriss« einer Geschichte der Metaphysik nicht einzeichnen: Denn »ich gestehe, zu altmodisch zu sein«, um in ihren Sätzen »die Fragen der Metaphysik […] noch wiedererkennen zu können« (475). War bereits in Kants Metaphysik (2004) eine »rückwärtsgewandte Programmatik« zu beobachten (ThLZ 1/ 2006), ist das bei einer »als Einführung gedachten historischen Darstellung« (475) der Metaphysikgeschichte an sich nicht zu beanstanden. Um deren exoterische und esoterische Konstruktionsbedingungen nachzuvollziehen, muss man sich allerdings regelrecht auf Spurensuche begeben.
Wenn im Nachwort »noch einmal ausdrücklich beton[t]« wird, dass das Buch »Einführungscharakter« habe und kein »Nachschlagewerk« sei (553), war im »Kleinen Vorspann« (XI f.) dahingehend nichts zu lesen. Wer sich zunächst über den leitenden Metaphysikbegriff orientieren will, wird auf den Eintrag im Glossar (508–515) verwiesen. Die strukturierte Problemkonstellation klärt jedoch nicht über die Auswahlkriterien der im »Kleinen Nachspann« resümierten »klassischen Metaphysik« auf, mit der sich das Buch allein befasst habe (473). Hier wird nur die Abweisung der analytischen Philosophie eigens begründet, während unklar bleibt, weshalb die lebensphilosophische Metaphysik Simmels – etwa im Anschluss an Bergson (409–415) – oder die kulturphilosophische Metaphysik der symbolischen Formen Cassirers nicht berücksichtigt wurden. Bemerkenswert ist, dass das Nachwort stattdessen eine »im Lichte der Kritischen Theorie« gebotene »Transformation des Modells von Cassirer zugunsten einer Herausarbeitung der materiellen Grundlagen der intellektuellen Prozesse« als normative Voraussetzung der Gesamtanlage geltend macht: »Dieser Position sieht sich die vorliegende Geschichte der Metaphysik […] verpflichtet« (553).
Die etwas unkoordiniert anmutenden Erläuterungen werfen Fragen nach dem Geschichtsverständnis und der Intention des Vf.s auf. Besteht ein Zusammenhang zwischen den nicht mehr metaphysischen Sätzen der analytischen Philosophie und ihrer Abständigkeit zur Philosophiegeschichte? Sofern die Fragen der Metaphysik, »die die Menschen im Laufe der Geschichte […] existenziell beschäftigt haben« (475), noch nicht abgegolten sind: Inwiefern würden sie evident, wenn sie nicht »mit Methoden der Logik« (473) bearbeitet, sondern in ihrem geschichtlichen Verlauf entfaltet werden? Und erfolgt das denn allein schon durch den (auch von Harman) erklärten Vorsatz, die Autoren »in ihrem geschichtlichen Kontext vorzustellen« (475)? Müsste die Herausarbeitung der materiellen Grundlagen nicht vielmehr die Geschichte als Formationsbedingung der Metaphysik betreffen? Die »großen Probleme der Metaphysik« werden »im jeweiligen Kontext besprochen« (509) und »im Verlauf der Philosophiegeschichte« (511) erörtert, nur nicht die Geschichte als Problem der Metaphysik. Sie bleibt ihr auch dort äußerlich, wo der Vf. den methodischen »Bruch« der »neu zu errichtenden Metaphysik« (XI) darlegt: »Innerhalb der Metaphysikgeschichte stellt das Werk Immanuel Kants […] eine entscheidende Zäsur dar« (235), die aber zugleich jede geschichtliche Evidenz der Metaphysik kategorisch ausschließt und daher ihren gesamten Vorlauf sprengt: Es folgt bekanntlich eine »Geschichte der reinen Vernunft«, deren »Blick auf das Ganze der bisherigen Bearbeitungen nur Ruinen vorstellt« (KrV B 880). Die bei Schelling und Hegel dann konstruierte Geschichtlichkeit des Absoluten (330 f.) bzw. absoluten Geistes (333) erwähnt der Vf. jeweils nur als systemimmanenten Faktor ohne Bezug auf die Kantische Zäsur. Die von ihren historischen Kontexten scheinbar enthobene Metaphysikgeschichte kommt mit Sartre an ein Ende, das ohne Abschluss und Ausblick die Frage offen lässt: Ist die Metaphysik in ihrer historischen Darstellung beschlossen oder ist ihre ›Auferstehung‹ in Ge­stalt der On­tologie (436 ff.) als Verheißung einer dauerhaft unerledigten Aufgabe zu lesen?
Wer hier eine bloße Nachlässigkeit des Vf.s vermutet, verkennt sowohl die Raffinesse des offenen Endes als auch »die performative Seite der Darstellung« (553). Das Anliegen scheint zu sein, die metaphysischen Fragen durch »die spezifischen Formen der Denkprozesse« aufleben zu lassen, um sie zu einer performativen Geschichte in historischen Kontexten zusammenzuschließen. Dazu zählen auch die biographischen Verknüpfungen und Anekdoten, an de­nen der Vf. zugleich etwas in der Sache profiliert – sei es durch die »ergötzlichen Injurien« Schopenhauers über den »ekelhafte[n] Wortkram« der »Hegelei« (339) oder Habermas’ »ungewollte Ideologiekritik« der Auferstehung der Metaphysik, indem er deren Autor versehentlich als Peter Wurst persifliert (436). Ein erkennbares In­teresse liegt überhaupt im Biographischen, das wie bei Nietzsche mal ausführlich vorangestellt (416–421), mal an geeigneter Stelle dezent eingespielt wird wie bei Heidegger (450 f.). Der Vf. handelt seine Stationen nicht nach einer festen Schematik ab, sondern komponiert eigentümliche und kohärente Panoramen – wie das bei Kant besonders gelungen ist (235–258): Einsetzend mit den vorkritischen Anfängen werden die elementaren Prinzipien und Thesen der Vernunftkritik erläutert, um dann die Problematik der transzendentalen Ideen und ihre Funktion als praktische Postulate zu erörtern. Abschließend wird die zeitgenössische Aufnahme rekapituliert, indem mehrere Rezipienten von Reinhold bis Jacobi zu Wort kommen (259–268). Denn das performative Herzstück ist, dass der Vf. durch zusammenhängende, bisweilen sehr lange Zitate »die sprachliche Artikulation des Denkens der Autoren erfahrbar ma­chen« will (553). Während das im Abschnitt zur Metaphysik bei Aris-toteles etwas überhandnimmt (29–32), müssen beim »Sprachkünstler Platon« (22) die umständlichen Dialogauszüge in den Fußnoten Platz finden. Leider fällt dadurch auch »die Grundstruktur der platonischen Ideenlehre« (24) etwas mager aus, obgleich eine »lange Nachgeschichte« (26) auf sie wartet. Kants »geheime Norm« der »an­geborenen Ideen« (243) erweist sich vor dem Hintergrund, dass er seine transzendentalen Ideen explizit als mit Platon übereinstimmend demonstriert (KrV B 370 ff.), durchaus auch als normativer geschichtlicher Ausgangspunkt, der mehr als nur Ruine ist.
Die Geschichte der Metaphysik besteht aus Gebäuden, die S. in seiner passionierten Darstellung sorgfältig und sehr einladend restauriert hat. Ob die Philosophie sie nur zu besichtigen oder mitunter auch zu bewohnen vermag, hängt davon ab, ob sie zeitgemäßere Formen findet, die existenziellen Fragen der Metaphysik bzw. unabweisbaren Fragen der Vernunft nicht beantworten zu können. Ein Gewinn ist die Lektüre der fundiert und verständlich dargelegten Positionen so oder so. Das imposante Werk des Vf.s hat einen festen Platz in jeder philosophischen und theologischen Bi­bliothek verdient.