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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1047–1049

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rami, Dolf

Titel/Untertitel:

Existenz und Anzahl. Eine kritische Untersuchung von Freges Konzeption der Existenz.

Verlag:

Paderborn: Mentis Verlag 2018. 225 S. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-95743-135-6.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Zum Verständnis der Existenz ist noch lange nicht alles gesagt. Auch nicht zu Freges Konzeption der Existenz, die für viele der Ausgangspunkt der Existenzdebatte in Logik und Analytischer Philosophie im 20. Jh. ist. Dolf Rami legt in dieser Untersuchung eine Rekonstruktion der Existenzanalysen Freges vor, die sich nicht nur – wie es in der Regel geschieht – auf § 46, § 53, § 55 und § 57 von Die Grundlagen der Arithmetik (1884) stützt, sondern auch die Ausführungen im Dialog mit Pünjer über Existenz (?1879–85) aus dem Nachlass berücksichtigt. Seine These ist, dass Frege insgesamt eine hybride Konzeption der Existenz entwickelt, »weil er zwei unterschiedliche Begriffe der Existenz im Rahmen unseres natürlichen Sprechens über Existenz lokalisiert, denen er ganz unterschiedliche Funktionen und Inhalte zuweist« (19). So gibt es in der natürlichen Sprache drei unterschiedliche Weisen, von Existierendem zu sprechen: die Prädikate »sein« und »existieren«, den Ausdruck »es gibt«, den Frege »als das Gegenstück des partikularen Quantors in der natürlichen Sprache angesehen hat« (18), und die Ausdrücke »wirklich sein« und »leben«.
Dem Vf. zufolge unterscheidet Frege grundsätzlich zwischen einem Begriff der Existenz, den die Verben »sein« und »existieren« zum Ausdruck bringen, und einem ganz anderen Begriff der Exis-tenz, der mit »es gibt« ausgedrückt wird. In Bezug auf den letztgenannten Begriff vertrete Frege eine substanzielle Konzeption, weil dieser Es gibt-Begriff nicht von Individuen, sondern nur von Be­griffen gelte und daher »nicht-trivial und explanatorisch wichtig« sei (19). In Bezug auf den erstgenannten Begriff dagegen vertrete Frege eine »deflationäre Konzeption«, weil dieser Existenzbegriff wie der Begriff der Selbst-Identität trivialerweise auf Individuen zu­treffe und im Rahmen der natürlichen Sprache keine explanatorische, sondern »eine rein expressive Funktion« habe (19).
Nach einer Einleitung, die das Problem und die Ziele der Untersuchung exponiert (14–25), entfaltet der Vf. in Teil 1 detailliert und textgenau »Freges Hybride Konzeption der Existenz« (29–88), diskutiert in Teil 2 »Freges Konzeption der Existenz im Historischen Kontext« (91–164) in Auseinandersetzung mit zentralen Existenzkonzeptionen von Kant bis Russell und Quine und bietet in einem abschließenden Teil 3 »Eine Systematische Kritik und Reaktion auf Freges Hybride Konzeption der Existenz« (166–217). Ausführlich d iskutiert er wichtige Einwände gegen den hybriden Status der Exis­tenzkonzeption Freges, gegen die substanzielle Konzeption von »es gibt« und gegen die deflationäre Konzeption von »existiert« und »sein«. Kann man angesichts der signifikanten Unterschiede beide Existenzbegriffe in eine Konzeption zusammenfassen? Ist es sinnvoll, von einem Begriff der Existenz zweiter Stufe zu sprechen und Anzahlaussagen so zu analysieren, wie Frege vorschlägt? Ist Freges Analyse von singulären Existenzsätzen mit Eigennamen nicht höchst unplausibel? (167 f.) Das Resultat der klaren und klärenden Diskussion dieser Fragen durch den Vf. ist die Feststellung, »dass unser alltäglicher Diskurs über Existenz weitaus komplexer und reichhaltiger ist als das Kant, Frege, Russell und Quine« zugestehen wollen (214). Angesichts dieser Sachlage haben wir dem Vf. zufolge im Wesentlichen »zwei Optionen in Bezug auf die Semantik von Existenzsätzen«: Nehmen wir »unseren alltäglichen Diskurs über Existenz in seinem vollen Umfang ernst, dann kommen wir um eine bestimmte Variante der negativistischen Existenzauffassung nicht herum« (215). Wir müssen »einerseits zwischen wirklichen/existierenden und nicht-wirklich/nicht-existierenden Ge­genständen und andererseits zwischen Existenz-implizierenden und nicht-Existenz-implizierenden Eigenschaften und Relationen« unterscheiden (215). Damit kann man Freges Anliegen im Kern aufnehmen und in modifizierter Weise festhalten.
Mit diesem Ergebnis steht der Vf. allerdings erst am Anfang der eigentlichen Frage, was es denn heißt, zwischen existierenden und nicht-existierenden Gegenständen bzw. zwischen Existenz-implizierenden und nicht-Existenz-implizierenden Eigenschaften und Relationen zu unterscheiden. Weil er sich ganz auf die semantischen Fragen konzentriert, wie es von Freges begriffsschriftlichem Ansatz her naheliegt, und nicht auf die Pragmatik der Verwendung der Verben »sein« und »existieren« in konkreten Diskursen eingeht, bleiben seine Ausführungen an einem entscheidenden Punkt un­bestimmt. Was bedeutet es für jemanden zu sagen, dass etwas exis-tiert bzw. nicht existiert? Die Antwort kann nicht nur im Ver-weis auf eine Beziehung zwischen dem Existenzprädikat und dem grammatischen Subjekt des jeweiligen Existenzsatzes bestehen (N existiert), sondern muss eine Relation zum sprechenden bzw. schreibenden Subjekt explizieren (Ich behaupte: N existiert). Singuläre Existenzsätze sprechen niemals nur über einen Gegenstand, sondern immer zugleich auch über die, die so über diesen Gegenstand sprechen. Wer von Existenz spricht, spricht nie nur über anderes, sondern immer zugleich auch über sich selbst und seine Welt. Erst wenn man diesen Sachverhalt ins Auge fasst, kommt man der Pointe von Existenzaussagen auf die Spur.