Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1044–1046

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

[Sparn, Walter]

Titel/Untertitel:

Das Projekt der Aufklärung. Philosophisch-theologische Debatten von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Walter Sparn zum 75. Geburtstag. Hrsg. v. J. Haga, S. Salatowsky, W. Schmidt-Biggemann, W. Schoberth.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 512 S. Geb. EUR 74,00. ISBN 978-3- 374-05183-0.

Rezensent:

Christian Weidemann

Der Titel und insbesondere der Untertitel dieser Festschrift führen in die Irre. Der Band versammelt 26 Beiträge alter Weggefährten Walter Sparns, von denen etwa ein Drittel teils wenig, teils gar nichts mit Aufklärung zu tun hat – weder der Epoche noch dem »Projekt« nach. Beispiele hierfür sind Ernst Kochs erhellende Beobachtungen zur frühen Wirkungsgeschichte der 13. Strophe des Lutherlieds »Vom Himmel hoch, da komm ich her«, Klaas Huizings blendend geschriebene Reflexionen über den sich an seiner calvi-nistischen Kindheit abarbeitenden niederländischen Romancier und Atheisten Marten ’t Haart oder Georges Tamers Ausführungen über das Verhältnis von Geschichte und Prophetie, sowie die Rolle biblischer Persönlichkeiten im Koran. Auch in den Beiträgen zur Aufklärung geht es oft wenig um »Debatten«, vielmehr häufig um die Einzeldarstellung bestimmter Autoren oder Werke. Jan Rohls liefert eine phasenweise ermüdende Nacherzählung zweier später Schriften Wielands, Albrecht Beutel legt einen »biographisch-ge­mütlich[en]« (Schmidt-Biggemann, 9), allerdings auch kenntnisreichen, amüsant und pointiert geschriebenen Bericht über Lessings und Herders Italienreisen vor, Kenneth Appold erinnert an den zu Lebzeiten enorm populären Theologen Franz Volkmar Reinhard (1753–1812), der mit rund 800 gedruckten Predigten weltrekordverdächtig ist. Der Band wird eingeleitet von einem launigen Überblick Wilhelm Schmidt-Biggemanns, in dem u. a. Alexander Pope – einer der gefeiertsten Poeten und Satiriker Englands, von späteren Autoren wie Byron oder Borges gerühmt – als »biedersanfter Vernunftoptimist« abqualifiziert wird. Es folgt eine von Joar Haga und Sascha Salatowsky verfasste informative, wenn auch stellenweise recht verquaste, intellektuelle Biographie des Jubilars.
Der Band enthält neben Ärgerlichem viel Schönes und Lehrreiches: z. B. Wilhelm Schmidt-Biggemanns instruktive Darstellung der geschichtstheologischen Debatte zwischen Mendelssohn und Hamann (mit einem Vorspann zu Pufendorf und Lessing) oder J. Hagas Beitrag über den einzigen Roman des geistreichen Ludvig Holberg, der Lust aufs Selberlesen macht. Ähnliches lässt sich für Christoph Bultmanns Text zur deutschen Wirkungsgeschichte von Popes An Essay on Man und seiner Übersetzungen (u. a. von Brockes und Herder) sagen. Günter Frank zeigt überzeugend, dass Grotius’ Naturrechtslehre kaum ohne seine theologischen Schriften zu verstehen ist, Robert Kolb geht der frühlutherischen Auslegungsgeschichte von Kol 2,8 nach (»dass niemand euch einfange durch Philosophie und leeren Trug«) und fördert dabei Aufschlussreiches zutage. Markus Buntfuß referiert in interessanter Weise über das Motiv der Einfachheit bei J. F. W. Jerusalem, Jan Kranát reflektiert anlässlich der von ihm mitverantworteten Übersetzung ins Tschechische über Lessings theologische Schriften, Dietrich Korsch über desselben Überlegungen zur Trinität, die später von Pannenberg aufgenommen wurden. Für den Laien schwer verdauliche Kost bieten Heinrich Assel und Jürgen Gebhardt zu Themen der politischen Theologie sowie Markus Enders in seinem Beitrag zu Schellings Auseinandersetzung mit dem ontologischen Gottesbeweis, dem ein Blick auf die Rekonstruktionen moderner Logik oder analytischer Religionsphilosophie nicht geschadet hätte. George Newlands denkt über Menschenrechte nach, Johanna Haberer diskutiert, wie aufgeklärte Gesellschaft, Recht auf freie Meinungsäußerung sowie journalistische Verantwortung im Zeitalter von Social Media konzipiert werden sollten, und Ulrich Beuttler entwickelt Anfänge einer »Wahrnehmungslehre der Natur als Schöpfung«. Aus Sascha Salatowskys originellem Aufsatz zur Rolle der Philosophie der Frühen Neuzeit im Werk Samuel Becketts (!) habe ich besonders viel gelernt, er ist ein Glanzstück des Buchs. Das lässt sich von den drei folgenden Beiträgen nicht sagen:
Ugo Perone stellt die Frage »Kann Hermeneutik aufklärerisch sein?«, auf die man geneigt ist zu erwidern: »Es kommt ganz darauf an, wer sie betreibt.« Freilich ist Hermeneutik für P. nicht allgemeine Auslegungskunst (G. F. Meier [1757]), sondern Typus einer Philosophie, die sich »einem Originären hin[gibt], das sie erschließen, aber nicht besitzen kann«. Für aufklärerische und analytische Denker hingegen »besitzt die Philosophie ein eigenes Objekt, dessen sie sich bemächtigen kann (die Wahrheit wird zu ihrem inneren Objekt)« (398). Wem das zu lyrisch ist oder wer nicht versteht, welcher Wahrheit (im Singular) Denker wie Spinoza oder Russell sich genau bemächtigen wollten, der sei vor der weiteren Lektüre gewarnt. P. holt historisch aus. Er nimmt Sokrates’ Behauptung des Nicht-Wissens für bare Münze und knüpft daran u. a. die Fragen »Wie kann man wissen, dass etwas falsch ist, wenn man nicht weiß, was wahr ist?« und »Wie kann man sich wünschen, etwas zu lernen, wenn man nichts weiß, nicht einmal, was man lernen möchte?« (399) Nun, wenn man buchstäblich keine wahre Aussage weiß, dann kann man natürlich auch nicht wissen, dass eine bestimmte Aussage falsch ist, denn dafür müsste man zugleich wissen, dass es wahr ist, dass die betreffende Aussage falsch ist. Noch viel weniger könnte man sinnvollerweise irgendetwas zu lernen wünschen. Was P. meint, ist offenbar: »Wie kann ich erkennen, dass eine bestimmte Antwort auf eine Frage falsch ist, wenn ich die wahre Antwort nicht weiß?«, doch dieses Problem entpuppt sich als völlig banal. Ich weiß nicht, aus wie vielen Buchstaben der Don Quijote besteht, aber ich weiß, dass es mehr als 100 sind. Ich weiß nicht, was Gerechtigkeit ist, aber ich weiß, dass die Ansicht, sie bestehe im Recht des Stärkeren, falsch ist; usw. Sodann behauptet P., Platon habe seinen Lehrer verraten müssen, »um treu zu bleiben«. »Platon hat in seiner Trauer eine Welt – die wahre Welt – erfunden«. Nicht so Aristoteles, denn »[f]ür ihn war der Meister nicht abwesend«, er konnte ihm »den wunderbaren Reichtum des Lebens zeigen« (400). So wird das Denken von drei der größten Philosophen aller Zeiten auf das Niveau eines Rosamunde-Pilcher-Romans heruntergezogen. P.s Fazit nach vielen weiteren gedanklichen Abenteuern: »Man kann die Gegenwart nicht verstehen, ohne die Aufklärung zu kennen.« (Er sagt es freilich in anderen Worten.)
Wenn das Blut des Liebhabers der Aufklärung nun bereits höhere Temperatur aufweist, so führt der Beitrag Stephan Weyer-Menkhoffs es dem Siedepunkt entgegen. Er beginnt mit einer ebenso ignoranten wie maliziösen Interpretation der ersten Sätze von Kants »Was ist Aufklärung?«, aus der hier nur das Fazit wiedergegeben werden kann:
»Die Herrschaft des eigenen Verstandes ist ›also der Wahlspruch der Aufklärung‹. Das Mittel zur Herrschaft des Verstandes ist die Kritik. […] Nur der kritische Anspruch unterliegt nicht der Kritik. […] Aufklärung macht mündig durch kritische Kritikresistenz. Diese Dialektik ist nicht sekundäre Folge der Aufklärung, sondern ihr eingeschrieben. Die als Vormund kritisierte Religion kann auf doppelte Weise dem kritischen Anspruch der Aufklärung erliegen. Entweder wird die Religion zwanghaft selbstkritisch, oder sie setzt sich hyperkritisch, indem sie antikritisch Kritik an der Kritik übt. Beiderseits trägt Religion das Verhängnis aufklärerischer Kritikresistenz und wird fundamentalistisch.« (498)
Lassen wir beiseite, wie der vermeintliche Wahlspruch der »Herrschaft des eigenen Verstandes« mit der Behauptung zusammenpasst, es sei äußerlich »der Probierstein des Fürwahrhaltens«, sein Urteil anderen »mitzuteilen« (KrV A820/B848) und »am Verstande Anderer zu prüfen« (AA 7, 128). Tun wir so, als ob »Kritik« bei Kant immer dasselbe bedeutete wie im Alltagssprachgebrauch. Ignorieren wir das Problem, ob Kant nicht z. B. Postulate oder den moralischen Glauben zumindest von einer bestimmten Art von »Kritik« ausnimmt. Unterdrücken wir schließlich auch die Nachfrage, warum es für die Aufklärung »notwendigerweise« (W.-M.) ausgeschlossen sein sollte, die angeblich unbegrenzte Reichweite ihres kritischen Anspruchs selbst einer kritischen Prüfung zu unterziehen. W.-M.s Schlussfolgerungen bleiben unhaltbar: Ist ein Gemeinwesen »demokratieresistent«, wenn es seine Gesetzgebung demokratischen Entscheidungsprozessen unterwirft, aber Gesetze ausnimmt, die die demokratische Verfasstheit selbst garantieren? Ist die Aufklärung »kritikresistent«, wenn sie alles der Kritik unterwirft, mit Ausnahme ihres kritischen Anspruchs selbst? W.-M.s Gegenmodell der »Theologie der Gabe« will nicht weniger als eine ganze Weltsicht vom Anspruch der allgemeinen Mitteilbarkeit und Überprüfbarkeit lossprechen. Angesichts dessen ausgerechnet der Aufklärung oder aufgeklärter Religion »Fundamentalismus« vorzuhalten, ist Demagogie.
Auch Wolfgang Schoberth arbeitet sich unter Hinzuziehung eines Hamann-Briefs an Kants Aufsatz ab. Er stört sich vor allem am Ausdruck der »selbst verschuldeten Unmündigkeit« und wirft Kant eine »dreifache Täuschung« vor: »Sie macht die Unmündigen, die Opfer auch in Kants eigener Logik, zu Tätern, sie verdeckt damit die realen Machtverhältnisse, und sie verbirgt, dass Kant selbst in seiner Beantwortung die Funktion eines Vormunds einnimmt.« (227)
Wo sagt Kant denn, dass es keine unverschuldete Unmündigkeit, geschweige denn keine durch die gesellschaftlichen Verhältnisse mitverschuldete Unmündigkeit gibt? Will S. wirklich behaupten, dass all die Konformisten, Mitläufer und Nachbeter der Menschheitsgeschichte gar nicht anders konnten, als unmündig zu sein? Hieße das nicht gerade, ihnen Achtung und Würde zu versagen? Wer nicht selbst denkt, ist für Kant in aller Regel »Täter« und »Opfer«, wenn man denn unbedingt so reden möchte. »Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein großer Theil der Menschen […] gerne zeitlebens unmündig bleib[t]« (AA 8, 35, m. Herv.), sie sind aber nicht die einzigen Ursachen dafür, dass Menschen unmündig sind. Außerdem: Nirgendwo »verbirgt« Kant, dass zeitweilige Vormundschaft eine wichtige Rolle bei der Befreiung eines Menschen aus Unmündigkeit spielen kann. Selbstverständlich hält er eine solche, auf die Erziehung zum Selbstdenken gerichtete Vormundschaft für legitim (z. B. AA 8, 146), von einer angeblichen »Antinomie«, die S. hier ausgemacht haben will (228), keine Spur. Selbst wer nur die ersten Sätze der Aufklärungsschrift kennt, kann schwerlich auf S.s Einwand verfallen, ohne Kant für dumm oder unredlich zu halten. Es scheint fast so, als sei mancher Exponent der »Hermeneutik« unfähig, Texte der Aufklärung mit einem Minimum an Wohlwollen zu studieren oder einschlägige Literatur echter Experten (nein, nicht Horkheimer/Adorno!) zu konsultieren.