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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1040–1041

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Klassen, Anna-Maria Herta

Titel/Untertitel:

Die theologische Deutung des Todes bei Emanuel Hirsch. Eine systematisch-theologische Analyse mit einem Ausblick auf gegenwärtige glaubenspraktische Fragen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XIII, 455 S. = Dogmatik in der Moderne, 20. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-155657-9.

Rezensent:

Sabine Joy Ihben-Bahl

In ihrer Monographie, die die geringfügig überarbeitete Fassung ihrer Dissertation darstellt, analysiert Anna-Maria Herta Klassen das Todesverständnis Hirschs, wobei die Christliche Rechenschaft die zentrale Quelle bildet.
Der Tod ist nicht »integrierbar«, bleibt »doppeldeutig«, »Geheimnis«. Auch die Kirche, die auf den reichhaltigen Fundus traditioneller christlicher Eschatologie(bilder) zurückgreife, könne den Tod nicht erklären. Das ist zunächst der Negativbefund einer Untersuchung, die Hirschs Todesverständnis ernst nimmt. Für K. ist es notwendig, dies heutzutage zu betonen, doch spiegelt es zugleich die Situation wider, mit der sich bereits Hirsch auseinandersetzen muss– nämlich der Klage von Kirchen- oder Theologievertretern über den Relevanzverlust christlicher Glaubensvorstellungen, die mit der Kritik an einer Gesellschaft einhergeht, die von Transzendenzverlust, falschen immanenten Unsterblichkeitshoffnungen etc. be­stimmt sei. Hirsch stimmt in den Tonus nicht mit ein, betreibt vielmehr Theologie- und Kirchenkritik: Der Relevanzverlust sei eigenverschuldet, wenn ein nicht mehr tragfähiges eschatologisches Bildergut in die Gegenwart transportiert werde, ohne »Rechenschaft« vor dem allgemein-humanen Wahrheitsanspruch abzulegen. Dies versuche Hirsch über einen existenzanalytischen und phänomenologischen Zugang und begründe so die Ewigkeitsbezogenheit des Menschen, die eine wahrheitstheoretische und eine ethische Dimension habe und jedem zugänglich sein müsse. Das bei Hirsch erarbeitete Verhältnis von Zeit und Ewigkeit und die sich daraus ergebende Spannung lassen dabei Rückschlüsse auf den Menschen zu: Er ist es, in den diese Spannung oder die von Fragmentarität und Vollendung seiner Bestimmung gelegt und dem dies bewusst werde. K.s Analyse der »konzeptionellen Voraussetzungen der Eschatologie« finden sich im ersten Teil, »Grundlegung«, ebenso wie die »Möglichkeitsbedingung der Eschatologie«, die Hirschs subjektivitätstheoretisch begründeten Offenbarungsbegriff behandelt. Offenbarung meine das »Erschließungsgeschehen« des Handeln Gottes »an mir«. Erschlossen werde die »antinomische Grundstruktur« des Menschen und auch das Gewissen als Medium der Erfassung. Offenbar werde die Liebe Gottes, deren Korrelat der Glaube sei und zwar als Instanz für die Gewissheit der im Leben erfahrenen Liebe Gottes. Der Liebesbegriff, der aus der Dialektik von Gesetz und Evangelium entwickelt werde, begründe zugleich die Dialektik von Schuldgefühl und Vertrauen auf menschlicher Seite und im Gottesbild die von Liebe und Zorn Gottes. Hier erfasst K. auch Hirschs Hamartiologie: Sie erläutert, warum die simul-Struktur des Menschen keine letzte Sicherheit der Gewissheit der Liebe ermögliche, jedoch »die Möglichkeit, die Verborgenheit Gottes unter seinem Gegenteil zu bejahen […].« (84)
Doch wohin führt dieser Zugang, wenn er mit traditioneller Eschatologie zusammengedacht wird? K. macht deutlich, dass die Konsequenz nicht in einer radikalen Entmythologisierung liegt. Die Abschaffung eschatologischer Bilder würde auch Hirschs Symbolbegriff nicht gerecht. Doch gebe es als Konsequenz der Thanatologie nun Bilder, die angemessener erscheinen als andere: Für Hirsch seien es die von Neuschöpfung und Reich Gottes, weil sie die individual-eschatologische Perspektive stützten. Damit grenze er sich zugleich von einer universaleschatologischen Eschatologie ab. Hirschs exis-tenzanalytische, Subjekt-zentrierte Transformation des christlichen Todesverständnisses impliziere nach K. weitere Konsequenzen: Der ewigkeitsbewusste Mensch werde in seiner aktiven Rolle, seinem Personwerden, seiner »Entscheidungshaftigkeit« verstanden. Der Be­schreibung der Transformation als letzter Teil der »Grundlegung« folgt der Hauptteil »Der Tod in der Spannung zwischen Nichtigkeit und Vollendung des Lebens«, der Hirschs Thanatologie im Horizont seiner ganzen Theologie erfasst. K. erarbeitet nun ausführlich die Individualeschatologie, wobei sie das Zentrum in Hirschs subjektivitätstheoretischer Interpretation des Gerichtsgedankens sieht und diesen als richtungsweisend für gegenwärtige Herausforderungen behauptet. U. a. in einem Exkurs zu Heidegger und Jaspers wird Hirsch dabei in Beziehung zu anderen existenzanalytischen Zu­gängen gesetzt und zugleich von ihnen abgegrenzt: Wie Heidegger erkenne Hirsch die Notwendigkeit einer »todesbezogene[n] Exis-tenzweise« (8) und bedenke vom Tod aus die menschliche Freiheit. Anders als Heidegger könne er aber nicht bei der Immanenz stehen bleiben, dies lasse sein Ewigkeitsbegriff nicht zu. Im Hauptteil werden auch Hirschs Angstbegriff, seine Kreuzestheologie und sein Glaubensbegriff erschlossen. Die Glaubensstruktur wird als durch die Dialektik von Gesetz und Evangelium bei gleichzeitigen Vollendungserfahrungen begründeter transitus bestimmt. Für den Glaubenden erschließe sich dies in der Begegnung mit dem Gekreuzigten.
In einem Ausblick, der seiner Bezeichnung angesichts seines Um­fangs kaum gerecht wird – doch folgerichtig »Ausblick« heißt, sonst würde K. ihren Umgang mit dem Tod absolut setzen –, erschließt sie das Todesverständnis für die kirchliche Praxis, vor allem für die Bestattungspredigt. Dafür wird auf Hirschs Erwägungen zum Predigtbegriff, zum Selbstverständnis des Predigers und zur Aufgabe der Systematischen Theologie für den Prediger rekurriert: Jene müsse diesen zur Reflexion des Gegenstands animieren, ihm eine Übersicht über die dogmatische Tradition bieten und ihn zu einer Auseinandersetzung im gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Horizont befähigen. Doch K. bleibt nicht bei Hirsch stehen: Sie überprüft die gegenwärtige zeitdiagnostische Wahrnehmung des Todes anhand von soziologischen Studien und überblickt den jüngeren praktisch-theologischen Diskurs. Dabei begründet sie plausibel, warum die »Todesverdrängungsthese« aufgegeben werden sollte, dass vielmehr eine neue Aufmerksamkeit für den Tod erkennbar sei und der Kirche damit geholfen wäre, die sich hier offenbarenden Todesdeutungen aufzunehmen – ohne die Probleme des Umgangs mit Tod und Sterben zu relativieren. Den Vorwurf an eine Sinn-verlorene Gesellschaft und ihren falschen Umgang mit dem Tod teilt sie nicht. Hier zeige sich nur das apologetische Interesse von Kirchen, die das Deutungsmonopol bezüglich des Todes für sich beanspruc hen, was nicht der Fall sei. Der Prediger sei vielmehr »Todesforscher« als »Todesexperte«. Pluralisierung und Individualisierung von Todesverständnis, Bestattungs- oder Erinnerungskultur stütze gerade Hirschs individualeschatologisches Todesverständnis. Differenziert werden von K. auch homiletische und poimenische Herausforderungen in drei »Skizzen« (»Sterben lernen«, »Erinnerung und Vergegenwärtigung der Toten«, »Todesangst und Weltende«) be­trachtet, die eine lebensförderliche Sicht ermöglichen sollen. Dabei grenzt sie sich auch von der Kritik an einer Harmonisierung der Beurteilung von Toten etwa in Traueransprachen ab: Zwar müssten Idealisierungen hinterfragt werden, doch zeige sich hier die theologische Wahrheit, Spuren der wahren Bestimmung des Menschen auch im irdischen Leben zu erkennen.
Auch wenn K. mit Hirschs Todesverständnis notwendig die »Un­vollständigkeit« allen Seins betonen muss, kann jedoch für diese Untersuchung, die die Thanatologie Hirschs im Horizont seiner ge­samten Theologie erfasst und gefährliche Pauschalisierungen wie auch halbherzige Praxisanweisungen unterlässt, von Vollständigkeit gesprochen werden.