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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1038–1039

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Käser-Braun, Matthias

Titel/Untertitel:

Judas Ischarioth: »Überlieferer« des Evangeliums. Karl Barths erwählungstheologische Interpretation der biblischen Judasgestalt.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2018. 226 S. m. Abb. = reformiert!, 5. Kart. EUR 33,90. ISBN 978-3-290-18178-9.

Rezensent:

Hans-Anton Drewes

Die aus einer Berner Masterarbeit hervorgegangene Monographie von Matthias Käser-Braun behandelt die Doppelfrage: »Leistet Karl Barths Deutung der biblischen Judasgestalt einen Beitrag zur theologischen Rehabilitierung der biblischen Gestalt Judas Ischarioths? Wenn ja, inwiefern bietet seine Deutung einen Schlüssel zum besseren Verständnis von Barths gesamter Lehre von Gottes Gnadenwahl sowie seiner (Kirchlichen) Dogmatik?« (28)
Die Energie verdient hohen Respekt, mit der der Vf. die »paraphrasierende Interpretation« (28) des Schlussteils der Erwählungslehre (KD § 35,4: »Die Bestimmung des Verworfenen«) erarbeitet. Dieser Abschnitt strahlt auch voraus in die Lehre vom Nichtigen in KD III/3 und in die Hamartiologie in KD IV, wie der Vf. in einem Kapitel über »Die Judas-Deutung im Horizont der Kirchlichen Dogmatik« zeigt. Damit ist eine erhellende Antwort auf die zweite Frage gegeben. Zur ersten Frage hebt der Vf. mehrfach »das wirklich Bahnbrechende hinsichtlich der (theologischen) Rehabilitierung der biblischen Judasgestalt bei Barth« hervor: Barth »wagt« »die Gegenüberstellung der gnadenhaften Überlieferung Christi durch GOTT und der sündigen Überlieferung Christi durch Judas« (113).
Der Argumentation Barths widmet der Vf. keine ausdrückliche Erörterung. Er gibt aber den Hinweis, dass es um eine »Entsprechung« ohne »Identität« (118; vgl. 119.182 f.194) zwischen dem menschlichen und dem göttlichen παραδοῦναι geht. Auf sie sei Barth durch die »exegetische Entdeckung« der »Parallelen des Überlieferns GOTTES und der Apostel sowie Jesu Selbstüberlieferung« (166 f.; vgl. 82 f.200) geführt worden. Wird diese Entdeckung Barths zutreffend wiedergegeben, wenn der Vf. überraschend von einer »univoke[n] Be­deutung von παραδοῦναι, seine[r] begriffliche[n] und sachliche[n] Konformität« (83) spricht? Die behauptete Univozität verfehlt die »formale Entsprechung« bei »inhaltliche[r] Entgegensetzung« (KD II/2, 538), auf der Barths Argumentation ruht. Magdalene L. Frettlöh geht im Geleitwort noch weiter: Barth gehe von einem »univoken Verständnis des paradounai des Judas und der anderen Apos-tel« aus (14), ja, »der sogenannte Verrat des Judas« sei nach »Barths Wahrnehmung« »nichts anderes« »als die apostolische Tätigkeit des Überlieferns«: »Judas tut, was ein Apostel zu tun hat: Er überliefert das Evangelium« (13).
Wie lässt sich beispielsweise Barths Aussage, dass die apostolische Überlieferung »mit dem Tun des Judas nur in der Beziehung stehen« kann, »daß es dessen völlige Umkehrung ist« (KD II/2, 556), mit dieser behaupteten »Wahrnehmung« Barths zusammenbringen? Nicht weniger regen die Passagen zu erneutem Überdenken an, in denen, wie das Geleitwort ankündigt, »das bleibende Be- und Gefangensein Barths in antijüdischen Stereotypen« (13) offengelegt wird. Das Urteil des Vf.s, Barth mache sich »der stereotypischen Hierarchie zwischen Christen- und Judentum schuldig« (202), er degradiere Judas »einzig zur Darstellung des Gerichts« (191), er stelle »mit seiner Konfiguration der doppelten Gestalt der einen Ge­meinde Israel in den Schatten, gar den Schatten der Kirche« (137), verdiente eine genauere Diskussion – übrigens auch im Zusammenhang der Biographie Barths. Dabei wäre grundsätzlich zu erörtern, ob in der Darstellung wie in der Kritik der Bestimmung des Judas und Israels bedacht ist, dass in diesem Bereich alles »synekdochisch« (KD II/2, 220), wechselseitig-einschließend, zu verstehen ist, wie Barth besonders an Saul und David, aber auch an Judas und Paulus eindrücklich macht: Deshalb lässt sich »das Verhältnis zwischen Treue und Untreue, Segen und Fluch, Leben und Tod hier und dort nicht in der Weise aufrechnen, als ob die Einen nur Träger des Ersten, die Anderen nur Träger des Zweiten wären. Darum überkreuzen sich vielmehr die Rollen, Führungen und Wege der beiderseitigen Figuren, aber auch diese selbst.« Sie »bedingen« sich so sehr »gegenseitig, daß die eine Gestalt Jesu Christi in dem Gegensatz der zwei Gestalten des Erwählten und des Verworfenen oft deutlicher sichtbar wird als deren Gegensatz« (KD II/2, 390). Barth scheint alles daran gelegen, diese gegenseitige Beziehung als eine Geschichte mit einem Telos deutlich zu machen, der Vf. scheint den Blick dagegen nicht auf die Bewegung in den »Figuren« zu richten, sondern sie – in einem Schritt hinter Barth zurück zu der Vorstellung »des von Ewigkeit her gleichsam eingefrorenen und also fixen göttlichen Beschlusses« (KD II/2, 210) – auf ein Moment in ihrer Ge­schichte festzulegen.
Die lebhaft vorgetragenen Vorwürfe gegen Barth vor allem wegen »der negativen und nicht zu relativierenden Frontstellung, dass Israel und Judas Ischarioth nur Zeugen des Gerichts seien« (202 f.; vgl. 130.136.138) – »diese Schattenseite der Barth’schen Theologie« (191; vgl. 130) – wären im Horizont der »Aktualität der Praedestination« (KD II/2, 206 f. u. ö.) noch einmal zu überdenken. Dem sympathischen Vorsatz, »mit Barth und über ihn hinaus« zu denken (52) und gegebenenfalls »Barth mit Barth zu widersprechen« (190), käme das nur zugute. Als sehr anregend sind die klug ausgewählten »verba externa« (vgl. 29) zu erwähnen, die die Untersuchung begleiten: Bilder und schön gesetzte Texte zu Judas.