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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1036–1037

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Böttrich, Christfried [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ernst Lohmeyer. Beiträge zu Leben und Werk.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 389 S. m. zahlr. Abb. = Greifswalder Theologische Forschungen, 28. Geb. EUR 44,00. ISBN 978-3-374-05687-3.

Rezensent:

Otto Merk

Dem Schicksal des Neutestamentlers Ernst Lohmeyer (1890–1946), das sich in besonderer Weise mit der Universität Greifswald verbindet, ist der Herausgeber als achter Nachfolger auf dessen Lehrstuhl anlässlich des 70. Todestages der Ermordung des bedeutenden Gelehrten durch ein Symposium 2016 nachgegangen. Dieses bildet die Grundlage des vielfältig orientierenden Bandes.
Auf ein gut einführendes Vorwort (9–12) folgt als 1. Teil der fast zu einer Monographie ausgearbeitete Eröffnungsvortrag des Greifswalder Kirchenhistorikers T. K. Kuhn (15–139). Hier wird fakten- und aktenkundig minutiös jenes »›Es ist unheimlich still um ihn‹ … Der Weg zur Rehabilitation Ernst Lohmeyers (1945–1996)« recherchiert: Der völlig unbelastete L. als erster Nachkriegsrektor wird in der Nacht vom 14. zum 15. Februar 1946 vor der offiziellen Wie-dereröffnung der Universität Greifswald verhaftet und am 19. September 1946 aufgrund von Denunziation und eines widerrechtlich durchgeführten sogenannten Prozesses in der Nähe Greifswalds umgebracht. Seine Grabstätte ist bisher nicht ermittelt. War auch seit 1950 der Tod L.s bekannt (115), erfolgte nach Jahrzehnten des Schweigens der Behörden eine »vollständige Rehabilitierung« L.s erst am 15. August 1996 »durch den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation« (59.129 ff.136 f.379). Unzählige Bemühungen der Familie, Näheres zu erfahren, sowie ausländische Veröffentlichungen über das Schicksal L.s (durch O. Cullmann und F. Lieb) und vom Sohn Hartmut erbetene Gutachten über seinen Vater (76 ff.217–247) bewirkten nichts. Zudem litt die Familie unsäglich (Wegnahme der Möbel, der Wohnung, keine Gewährung einer Pension; Studienverbot für die Tochter). K. zeichnet ungemein eindrücklich nach, wie der völlig Unbescholtene, ein unerschrockener Gegner des Nationalsozialismus und des Antisemitismus, nach 1945 in seiner Universität ein die Fachdisziplinen übergreifendes als »ganzheitlich« zu bezeichnendes Wissenschaftsverständnis einbringen will, der aber an den willkürlich handelnden vorgesetzten Dienststellen, an In­trigen und Falschaussagen als dem Zeitgeist Unangepasster scheitert.
Der 2. Teil bietet die dem Werk geltenden Vorträge des Symposiums: J. R. Edwards zeigt in »Martyrium: Gesetztes Ziel in Lohmeyers Theologie, erreichtes Ziel in seiner Biographie« (143–149) im thematischen Kontext von »Glaube« und »Nachfolge« bei L. dessen Verständnis von »Martyrium« seit etwa 1925 bis hin zum existentiellen Vollzug in L.s Leben auf. – A. Köhn, durch eine wichtige Untersuchung über den Neutestamentler L. ausgewiesen, behandelt in »Das ›Jetzt‹ des eschatologischen Tages …« (151–173) die »metaphysische Bestimmtheit« in L.s Werk, die von philosophischen Implikationen (R. Hönigswald, auch Hegel; schon teilweise in der Erlanger phil. Diss. über Anselm von Canterbury) geprägt ist und auf dem »Hintergrund« der 30er Jahre in Deutschland (158 ff.) sein theologisches Denken eindeutig von der »Eschatologie« als der »notwendige[n] Zeitform des Glaubens« (161) bestimmt sein lässt. – H. Assel zeigt den Kerngedanken der Auslegung von »Lohmeyers ›Vater unser‹« (175–188) besonders im Gespräch mit K. Barth auf: »Nach Lohmeyer begründet Gottes Name die Herrschaft des Reiches Gottes, die Heiligkeit seines Namens sein Königtum« (188), eine These, die L.s Sicht der Synoptiker und des Johannesevangeliums einbeziehe. – C. Böttrich betont in »Ernst Lohmeyer und die ›soziale Frage‹« (189–202), L.s einschlägige Schrift von 1921 »wirft ein bezeichnendes Licht auf die Persönlichkeit Ernst Lohmeyers als homo politicus«. Sie lässt »ahnen, welche Probleme an der Greifswalder Universität nach 1945 auf ihn warteten« (202). Gegenwärtige sozialgeschichtliche Forschung kann sich nicht auf L.s Untersuchung stützen (193, Anm. 23; vgl. 192 ff.). – J. W. Rogerson spürt bleibende »Aktualität« von L.s Grundsatz auf: »Alle wissenschaftliche Theologie ohne gläubige Theologie ist leer, alle gläubige Theologie ohne wissenschaftliche Theologie ist blind« (203; vgl. 203–213). – Leider ist kein Beitrag der bis heute anhaltenden Diskussion über L.s Kommentare gewidmet.
Im 3. Teil »Biographische Materialien zu Ernst Lohmeyer« werden die »Ehrenerklärungen für Ernst Lohmeyer 1946–1947« mit kurzen Vorstellungen der Verfasser (zu pauschal z. B. bei R. Bultmann [221]) vollständig zitiert (217–247). In ihnen wird übereinstimmend der untadelige Charakter L.s und dessen herausragende wissenschaftliche Bedeutung betont. Dass diese zu einer Zeit verfasst wurden, als L. nicht mehr am Leben war, stellte sich erst im Rückblick heraus. Ergreifend ist der nüchterne Bericht von Frau Melie Lohmeyer: »Der Fall Lohmeyer … [1949]« (249–256). Über Erinnerungen weiterer Zeitzeugen hinaus (257–264) zeigt C. Böttrich in »Erinnern und Gedenken …« (265–290) detailliert L.s Weiterwirken im akademischen Gedenken und in Ehrungen durch Namensgebungen in seiner westfälischen Heimat und in Greifswald, mit dem Ergebnis: »Vom verfemten Gelehrten und verschwiegenen ›Fall‹ ist er nun zu einem geachteten und öffentlich geehrten Traditionsträger theologischer Arbeit in Greifswald geworden, dessen wissenschaftliches Werk bewahrt und gepflegt wird.« (290) Recherchen zu einer Bronzebüste L.s und seiner Gedenktafel in Greifswald ergänzen dies (291 ff.307 ff.).
Eine ebenfalls von C. Böttrich verfasste vorzügliche und weiterführende »Annotierte Bibliographie zu Ernst Lohmeyer« (320–356) sowie ein bereichernder »Bildanhang« (mit Porträts und Wohnstätten L.s) schließen sich an. – Eine an sich hilfreiche »Kurzvita Ernst Lohmeyers« (379) zeigt leichte Ungenauigkeiten (leider fehlt die für L.s Lebenswerk folgenreiche Rufablehnung nach Gießen 1925).
Der Herausgeber und seine Mitautoren haben sehr dankenswert ein nachhaltiges Erinnern an einen der Großen in der neutes-tamentlichen Wissenschaft angestoßen.