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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1034–1035

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Strong, Rowan

Titel/Untertitel:

Victorian Christianity and Emigrant Voyages to British Colonies c. 1840 – c. 1914.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2018. XIII, 302 S. Lw. US$ 94,00. ISBN 978-0-19-872424-7.

Rezensent:

Martin Ohst

Der unprätentiöse Titel kennzeichnet den Inhalt dieses außergewöhnlich interessanten Buches präzise. Rowan Strong, ein in Perth (Australien) lehrender Kirchenhistoriker, ist ein breit ausgewiesener Kenner der englischen Kirchengeschichte des 19. Jh.s, insbesondere des Anglikanismus. Das merkt man seinem Buch allenthalben an: Immer wieder gibt er in souveräner Kürze historisch solide fundierte, gerade dem ausländischen Leser verstehensnotwendige Informationen zur Vorgeschichte und zur Geschichte des breit in Konfessionen und Denominationen aufgefächerten Chris-tentums im Großbritannien des 19. Jh.s.
Der eigentliche Schwerpunkt seiner Untersuchung liegt jedoch anderswo: In beeindruckender Such- und Sammelarbeit hat er aus Archiven handschriftliche Tagebücher zusammengetragen, die auf den Schiffspassagen zwischen England und den Zielländern der Emigranten entstanden sind. Diese Reisen dauerten, wenn sie nach Kanada oder in die USA gingen, Wochen, und wenn ihr Ziel Australien oder Neuseeland war, Monate. Die Menschen, die auf den Schiffen auf Gedeih und Verderb beieinander waren, zerfielen in unterschiedliche, in sich wiederum deutlich untergliederte Gruppen. An der Spitze der Besatzung stand der Kapitän mit seinen Offizieren; einen hohen Rang nahm daneben der (leitende) Schiffsarzt ein; ein disziplinarisches Problem bildete das Verhältnis der Mannschaften zu den Frauen unter den Emigranten – man versuchte, es durch Kontaktverbote zu lösen.
Unter den Passagieren nahmen diejenigen eine Sonderstellung ein, die Kabinen hatten; die große Masse war in den Zwischendecks untergebracht, wo es keinerlei Privat- oder Intimsphäre gab und bisweilen albtraumhafte hygienische Verhältnisse herrschten. Auch hier wurde Disziplin durch Segregationsmaßnahmen hergestellt; besonders unverheiratete Frauen und Männer wurden voneinander möglichst ferngehalten. So lebten die Menschen auf jenen Schiffen, die, verglichen mit heutigen Kreuzfahrtschiffen, winzig waren, in durchaus abgeschotteten Sonderwelten nebeneinander her.
Das gottesdienstliche Leben an Bord der Schiffe stellte diese starke Segmentierung nicht in Frage, sondern spiegelte sie vielmehr wider. Und wenn doch einmal Gottesdienste gefeiert wurden, zu denen die Passagiere aller Klassen sowie die Mitglieder der Besatzung eingeladen waren, so waren das prekäre Ausnahmen.
Die Menschen auf den Schiffen stammten zum allergrößten Teil aus Großbritannien. Es fuhren aber auch Deutsche auf englischen Schiffen in die Fremde – ihnen wurde nachgesagt, dass sie sich nicht wuschen und ihre Kleidung nicht wechselten, sondern einfach neue Textilien über die alten zogen (221 f.). Ebenfalls extrem randständig war die Stellung von Juden, die wegen ihrer Gesetzesobservanz zwar staunend bewundert, aber auch schikaniert wurden. Eine aktiv wie passiv sehr stark abgegrenzte Sondergruppe bildeten Katholiken, bei denen die nationale (irische) und die konfessionelle Sonderart einander wechselseitig stärkten und beförderten. Die große Masse der Emigranten, welche die von S. ausgewerteten Quellen direkt und indirekt bezeugen, gehörte der ang- likanischen Kirche sowie den unterschiedlichen evangelischen De­nominationen an. Die offen geäußerte prinzipielle Ablehnung des christlichen Glaubens war noch bis zum I. Weltkrieg hin eine Haltung, die in den von S. ausgewerteten Quellen als seltenes, be­merkenswertes Phänomen reflektiert wird.
S. zeigt, dass im Mikrokosmos der Auswandererschiffe wie in der englischen Gesellschaft insgesamt in dem Zeitraum, welchem sein Buch gilt, eine ganz markante Verschiebung stattgefunden hat. Noch in den 40er Jahren des 19. Jh.s verstand sich die anglikanische Kirche trotz des in sich vielfältigen »Dissent« und seiner Existenzrechte als die allumfassende, d. h. für alle Engländer zuständige und sie auch beanspruchende Kirche: Zumal auf dem Lande war die Pfarrei bzw. das Kirchspiel ebendas Organ staatlicher Kultur- und Sozialpolitik schlechthin, und darum waren alle Menschen unbeschadet ihrer persönlichen Orientierungen und Präferenzen faktisch in bestimmten Lebensbereichen an sie gebunden. Entsprechend weit ausgreifend, aber auch weitherzig gestaltete sich das Selbstverständnis dieser Kirche. Bezeichnend ist, dass vielfach Kapitäne oder Schiffsärzte es als ihre Dienstobliegenheit ansahen, Lesegottesdienste nach den Vorgaben des Book of Common Prayer abzuhalten. Und auch dann, wenn anglikanische Geistliche an Bord waren, wurden nur sehr selten Abendmahlsgottesdienste ab­gehalten. Weil in der anglikanischen Kirche die Kommunion un­lösbar an die Kirchengliedschaft gebunden war, wirkte das als integrative Einladung an alle Passagiere. Das Aufkommen des Anglokatholizismus im Gefolge der Oxford-Bewegung interpretiert S. als Abkehr von diesem Integrationskurs zugunsten einer stärkeren denominationellen Selbstprofilierung, und auch auf den Auswandererschiffen wurden nun sehr viel häufiger Abendmahlsgottesdienste gefeiert. Natürlich spielte hier auch noch einmal die soziale Schichtung eine Rolle: Als der Viscount Halifax, ein Anführer der extremen Anglokatholiken, auf einem Schiff nach Südafrika fuhr, das auch Emigranten transportierte, ließen seine Frau und er täglich durch einen anglikanischen Mönch die Messe feiern – in ihrer Kabine bzw. Suite (256).
Das enge Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Frömmigkeitsstile und konfessioneller Traditionen hat nicht einfach zum Abschleifen der Profile geführt. Vielfach wurde Menschen gerade in der Grenzsituation der Reise ins Ungewisse besonders deutlich, was ihnen innerlich Halt gab. Besonders eindrücklich sind im Kontrast die Zeugnisse für die Bibelfrömmigkeit eines schottischen Schafhirten (218) und die Wertschätzung der Liturgie des Book of Common Prayer (219 f.). Für einen deutschen Leser ist es eindrücklich, mit welchen positiven Gemütswerten für Briten die an Bord schmerzlich vermisste strenge Sonntags-Observanz (»Sabbatarianism«) konnotiert war. Gefühle der Zusammengehörigkeit zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Denominationen er­wuchsen einmal aus der gemeinsamen Teilhabe an den Erwe-ckungsbewegungen des 18. und 19. Jh.s (»Evangelicalism«), aber auch das besonders von Methodisten praktizierte Singen von »hymns«, also geistlichen Liedern ohne Psalmenbezug, führte Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen. Was Antipathien und Aversionen allerdings am heftigsten und nachhaltigs-ten erschütterte, war durchgängig die Begegnung mit Menschen, die eine deutlich profilierte religiöse Lebensdeutung mit einem authentisch gelebten überzeugenden Ethos verbanden.