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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1024–1026

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Zech, Julia

Titel/Untertitel:

Reformation als Herausforderung. Konflikte und Alltag des Superintendenten Jacob Jovius im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel 1569–1585.

Verlag:

Göttingen: V & R Unipress 2018. 494 S. m. 20 Abb. = Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, 50. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-8471-0821-4.

Rezensent:

Gerhard Müller

Julia Zech hat eine akribische Arbeit vorgelegt – und eine besonderse Quelle: drei Handschriften, die im Pfarrarchiv der Evangelisch-lutherischen Petrus-Gemeinde in Halle, Landkreis Holzminden, liegen und die 2009 »gefunden« wurden. Dabei handelt es sich um ein Rechnungsbuch für die Jahre 1570–1596 und zwei »Konzeptbücher«, die vom ersten Superintendenten in Halle, J. Jovius, angelegt worden waren. Seine beiden Nachfolger haben für die Zeit bis 1612 Hinzufügungen gemacht. Diese werden von Z. aber nicht analysiert.
Die späte Einführung der Reformation in Braunschweig-Wolfenbüttel geht auf Herzog Julius von Braunschweig und Lüneburg zurück, der nach dem Tod seines Vaters Heinrich 1568 die Herrschaft übernommen hatte. Ausgangspunkt für die Reformation ist die von ihm erlassene Kirchenordnung von 1569, durch die die ganz am westlichen Rand des Landes gelegene Superintendentur Halle geschaffen worden ist. Es handelt sich um eine »mikrogeschichtlich« orientierte Analyse, in deren Zentrum der Superintendent von Halle steht, mit anderen Worten: um eine »egozentrierte, soziale Netzwerkanalyse«. Damit reiht Z. sich ein in die moderne Forschung: »Die Konzentration insbesondere auf die Person Luthers sowie anderer Reformatoren ließ nach. Stattdessen steht inzwischen die Betrachtung der Reformation in allen zeitlichen und räumlichen Kontexten im Vordergrund.« Das mag sein. Aber in einem 2018 erschienenen Buch sollte das vorhergehende Jahr doch nicht schon ganz vergessen sein. Jedenfalls die Rezeptionsgeschichte muss gegen das Zitat Widerspruch einlegen. Richtig dagegen ist, dass die »Konfliktforschung in den Sozialwissenschaften« wertvolle Erkenntnisse gebracht hat. Jedoch sollten Historiker sich ihre Fragestellungen dadurch nicht zu stark einschränken lassen. Dass die Spannung zwischen »Konflikt« und »Alltag« in dieser Studie wichtig ist, wird durch den Untertitel dieser Göttinger Dissertation deutlich.
Die zentrale Quelle wird geschildert, bevor eine kurze Biographie von Jovius folgt. Er war der Sohn des Pächters einer Mühle, die dem Kloster Walkenried gehörte. In der Flarichsmühle wurde er 1534 oder 1535 geboren. Er hatte fünf Brüder und zwei Schwestern, die ihm seine Karriere neideten und versuchten, das elterliche Erbe nicht ganz mit ihm zu teilen. Erst über seine Lehrerzeit erfahren wir wieder Genaues. Er wurde nämlich Rektor in Nordheim, wo er das Bürgerrecht erwarb und Margaretha Cloth heiratete. Sie hatten vier Töchter und zwei Söhne. 1556 wurde er Rektor in Moringen in Calenberg-Göttingen, wo die Reformation bereits eingeführt worden war. Um seine theologischen Kenntnisse zu verbessern, ging er 1558 zum Studium nach Jena und wurde dort zum strengen Lutheraner. 1562 ist er wieder Rektor in Nordheim. Als 1569 für die Einführung der Reformation im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel gute Theologen gesucht werden, begibt er sich zum Examen nach Wolfenbüttel. Ergebnis: zum Pfarrer, aber nicht zum Superintendenten geeignet. Trotzdem kommt er nach Halle und wird dort nicht nur zum Pfarrer ordiniert, sondern auch als Superintendent eingeführt. In Halle war seit mehr als 60 Jahren kein Priester m ehr gewesen; die Gemeinde war von Aushilfskräften versorgt worden, das Pfarrhaus war in einem schlechten Zustand. Halle war zum Superintendentensitz gemacht worden, weil es eine gute Pfründe hatte. Jovius ist bei Bauarbeiten dann auch in Vorlage ge­treten. 1576 baute er einen Pfarrspeicher zu einer Schule um – die Bildung der Jugend ist ihm wichtig gewesen. Fortbildung betrieb er persönlich, indem er sich neue Bücher bestellte oder mit Kollegen Bände austauschte. Ein Hobby war die Medizin. Verwandte und Freunde, denen er Arzneien empfahl, bat er um Bericht über deren Wirkung. Seine Urinuntersuchungen (»Harnschau«) machten ihn über seine Superintendentur hinaus bekannt. Dass Herzogin Clara von Braunschweig-Wolfenbüttel, die mit Herzog Philipp von Braunschweig-Grubenhagen verheiratet war, ihren Urin von ihm untersuchen ließ, musste ihn geradezu als Kapazität auf diesem Gebiet erscheinen lassen. Seine theologische Arbeit litt nicht darunter. Seinen pfarramtlichen Pflichten ist er nachgekommen, soweit er dazu gesundheitlich in der Lage war.
Umfangreich waren seine Aufgaben als Superintendent. Er hatte die Dienstaufsicht über die Pfarrer, die Küster und das Schulpersonal. Zweimal im Jahr sollten alle Pfarreien visitiert werden, und zwar zusammen mit dem zuständigen Amtmann, der für die weltlichen Bereiche zuständig war. Diese Zusammenarbeit musste sich erst einige Jahre lang einspielen. Auch um die Rechnungslegung der Gemeinden ging es. Aber auch darum, ob Pfarrer als Schreiber, Notare oder Arzneimischer tätig seien, die sich damit ein Zubrot verdienen wollten. Auch Kirchen- und Eherechtsfragen kamen vor. Der Superintendent war gehalten, lösbare Fälle zu schlichten. Die Exekutive lag beim Konsistorium, das in Wolfenbüttel beziehungsweise 1579–1589 in Helmstedt tagte, also am östlichen Ende dieser Kirche.
Den weitaus umfangreichsten Teil der Arbeit nehmen fünf »Konfliktfelder« ein: Familie, Freunde, Gemeinde, geistliche und weltliche Amtsträger. Es ist sicher richtig, dass in Konflikten Hintergründe von Spannungen sichtbar werden. Aber das darf nicht dazu führen, dass man aus Kleinigkeiten »Konflikte« konstruiert. Der Erbstreit mit den Geschwistern ist schon angesprochen worden. Mir ist aufgefallen, dass Jovius seine Brüder und Schwestern dringend bittet, ihre alt gewordene Mutter gut zu behandeln. Er bricht die Kontakte zu seinen Geschwistern trotz der Erbstreitigkeiten nicht ab. Einer seiner Schwäger vermittelte ihm Bücher. Jovius war kein schneller Zahler. Aber er beglich alle Rechnungen dann doch. Sein Schwager musste den Buchhändler immer wieder um Geduld bitten. Daraus einen Konflikt zu konstruieren, halte ich für zu weit hergeholt. Der Schwager hätte, wenn ihm die Vermittlungsbemühungen zu lästig geworden wären, diese einstellen können. Davon ist aber nichts zu erfahren. Mit den Freunden gab es keine Konflikte. Hier kommt sogar eine Sterbebegleitung vor: Der reiche Hartung Hage kommt mit seiner Frau von Bodenwerder, wo er wohnt, nach Halle und quartiert sich bei seinem Freund ein, weil er die Luft dort für besser hält. Länger als drei Wochen wohnen sie bei Jovius. Aber die Krankheit verschlimmert sich, ein herbeigerufener Arzt vermag nicht zu helfen. Der Superintendent bereitet den Kranken auf sein Ende vor: Er erteilt ihm die Absolution und reicht ihm das Abendmahl. An die Witwe schreibt er zwei Trostbriefe. In der Zusammenfassung von Z. heißt es: »In Notlagen konnte sich Jovius auf seine Freunde verlassen.« Die genannte Sterbebegleitung zeigt: umgekehrt auch! Ein echtes Konfliktfeld war dagegen die Gemeinde: »Das war noch nie! Das ist neu!« So wurde erklärt, als es um Baulasten am Pfarrhaus ging. Die neuen Gesetze des Hofes hatten dagegen keine Chance. Jovius gab nach. Überhaupt gab es viele, die weder zum Gottesdienst noch zum Abendmahl kamen. Der Pfarrer musste sie auflisten und die Namen weitergeben. Wer jedoch christlich bestattet werden wollte, musste vor dem Tod um die Absolution und das Abendmahl bitten. Es gab zwei »Klageschriften« der Gemeinde ge­gen ihren Pfarrer, die sich gegen dessen nach ihrer Meinung ungerechte Forderungen wehren. Auch der Umgang mit den geistlichen und den weltlichen Amtsträgern war nicht konfliktfrei. Wer hier hätte helfen können, war das Konsistorium, aber dessen Tätigkeit wurde von Jovius als recht träge eingeschätzt.
Z. hat viele Archivalien herangezogen, da aus den »Konzeptbüchern« allein nicht alles klar genug erkennbar gewesen wäre. Sie hat Ausfertigungen von Jovius mit seinen Konzepten verglichen und festgestellt, dass er sich nicht sklavisch an seine eigenen Entwürfe gehalten hat. Sie hat Entscheidungen des Konsistoriums von Haller Vorgängen eruiert und war nicht nur auf Jovius konzentriert. So ist eine materialreiche Untersuchung entstanden, die alles in allem für viele Disziplinen Erkenntnisse vermittelt. Karten, Diagramme, Bilder und ein Register wurden hinzugefügt. Es liegt sogar eine CD mit »Biogrammen der Hauptakteure«, mit »Regesten« der Konzeptbücher und einem »Register der Empfänger« bei.