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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1023–1024

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Sladeczek, Martin

Titel/Untertitel:

Vorreformation und Reformation auf dem Land in Thüringen. Strukturen – Stiftungswesen – Kirchenbau – Kirchenausstattung.

Verlag:

Wien u. a.: Böhlau Verlag 2018. 720 S. m. 72 Abb. = Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 9. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-412-50810-4.

Rezensent:

Stefan Michel

Die meisten Menschen lebten im Reformationsjahrhundert auf dem Lande. Der Anteil der Stadtbevölkerung betrug hingegen nur ungefähr 20 %. Insofern füllt die Jenaer Dissertationsschrift von Martin Sladeczek eine entscheidende Wissenslücke, die nicht die städtische, sondern die wenig erforschte ländliche Reformation be­trifft. Dass er sich als Untersuchungsraum Thüringen aussucht, ist umso erfreulicher, als dieser Landstrich um 1520 mehrheitlich zum Kurfürstentum Sachsen – mit Wittenberg als Ausgangspunkt der Reformation – gehörte.
Die an der Universität Jena eingereichte landeshistorische Studie zerfällt in eine Einleitung und drei Teile. Die Einleitung (11–36) führt in den Forschungsstand ein, der gerade zum Untersuchungsgebiet Thüringen sehr überschaubar ist. Neben dem landsässigen Adel stehen vor allem Bauern als Handlungsträger im Mittelpunkt der Fragestellung. S. grenzt den Untersuchungszeitraum nicht zu stark ein, sondern nimmt ungefähr die Zeit zwischen 1470 und 1570 in den Blick, wodurch Entwicklungen und Transformationsprozesse deutlicher erkennbar werden sollen. Wesentliche Quellen sind die kursächsischen Visitationsprotokolle ab 1527, Suppliken, Rechnungen, aber auch archäologische und bauhistorische Untersuchungen. Methodenfragen werden nur am Rande gestreift.
Der erste Teil geht der »Vorreformation auf dem Land (1470–1520)« sehr ausführlich nach (37–246). S. setzt mit dem »Verhältnis zwischen Gemeinde und Pfarrer« ein (39–53), das von unterschiedlichen Erwartungen geprägt war, wie vor allem Suppliken zuguns-ten einer besseren geistlichen Versorgung eines Dorfes belegen. Über die Finanzen und die Kirchenfabrik konnte die Gemeinde jedoch einen gewissen Einfluss auf die kirchlichen Verhältnisse ausüben (54–90). Verschiedenste Stiftungen sorgten auch auf dem Land für eine »Verdichtung des Sakralen« (90–189). Weiterhin referiert S. über »Die Dorfkirche und ihre Ausstattung« (188–225) und »Die Bauern und das landesherrliche Kirchenregiment« (225–241). Der Abschnitt wird durch eine Ergebnissicherung zusammengefasst. Hier fallen begriffliche Unschärfen auf, die die ganze Arbeit durchziehen. Ist Frömmigkeit beispielsweise tatsächlich das Gleiche wie Religiosität (242)? Auch müssten manche Beobachtungen präzisiert werden: Delegierten die Landesherren tatsächlich ihre Patronatsrechte an ihre Amtmänner (227) oder war es nicht doch so, dass die Amtmänner den Landesherrn mit seinen Patronatsrechten vor Ort vertraten?
Der zweite Teil ist überschrieben mit »Die frühe Reformation auf dem Land. Eine Welt im Umbruch? (1520–1526)« (247–310). S. konstatiert die »bemerkenswerte Quellenarmut dieser Jahre« (249), um dann »Zeugnisse der reformatorischen Bewegung vor dem Bauernkrieg« (250–284) darzustellen, zu denen die »Verweigerung von Abgaben«, das »Ende der Stiftungen«, das »Ende der Wallfahrten« sowie der »Bedeutungsverlust der geistlichen Gerichte« gehören. Weiterhin stellt S. die Inhalte der Beschwerdeartikel des Jahres 1525 sowie das Verhalten des Niederadels »in der frühen Reformationszeit« an ausgewählten Beispielen dar. Da S. von seinen Quellenfunden her diesen Abschnitt konzipiert hat, endet diese Phase erst nach dem Bauernkrieg im Jahr 1526. An dieser Stelle wäre zu fragen, ob das obrigkeitliche Handeln der Landesherren nicht doch schon im Herbst 1525 festzustellen ist.
Deutlicher setzen geordnete reformatorische Veränderungen nach 1526 ein, wie sie S. in einem dritten Teil unter der Überschrift »Die Zeit der ersten Visitationen und der Wandel der Frömmigkeit (1526–1570)« beschreibt (311–541). Zunächst nimmt S. die Pfarrer in den Blick (314–351), die durch die Visitationen deutlich ins Visier der reformationsfreundlichen Obrigkeit gerieten. Doch nicht nur ihre Befähigung wurde in den Visitationen geprüft, sondern auch ihre wirtschaftliche Versorgung. Durch die Visitationen kam es zu Um­bildungen auf der Pfarrlandkarte, indem neue Pfarreien geschaffen oder bestehende zusammengelegt wurden (351–369). S. bringt Beis piele für die »Umwandlung der Stiftsgüter« (370–386) sowie den »wachsenden Einfluss der Herrschaft im Kurfürstentum« Sachsen (386–395) bei gleichzeitiger Unterdrückung der »Reformation im al­bertinischen Gebiet vor 1539« bei (395–401). Adlige begrüßten die Reformation nicht nur, sondern achteten auch darauf, dass ihre Rechte nicht beschnitten wurden, und blieben oft länger dem alten Glauben verhaftet (402–417). Über die Altarleute, die beispielsweise durch die Visitatoren angehört wurden, konnten die Gemeinden oft ihre Interessen durchsetzen (417–425). Die kursächsischen Visitationen übten auch auf die Dörfer im Erfurter Gebiet Einfluss aus (425–443). Dass die Reformation über einen längeren Zeitraum durchgesetzt wurde, zeichnet S. an »Indizien für Andersgläubigkeit« nach (443–452). Die Armenversorgung wurde fortan über den Klingelbeutel geregelt (452–456). Auch im Kirchenraum und am Kirchengebäude selbst brachte die Reformation Veränderungen mit sich, die die Vasa sacra, die Bibliotheken, den Bau selbst, die Beinhäuser und die Bilder betrafen (456–536). Dabei fällt auf, dass Investitionen in das Kirchengebäude erst nach der Mitte des 16. Jh.s anstiegen. Eine kurze Ergebnissicherung beschließt den Teil (537–541).
Ein Fazit unter der Überschrift »Umbruch und Beharrung« fasst die Ergebnisse der Studie zusammen (543–554). Demnach wandte man sich auf dem Land zwar schnell der Reformation zu, setzte aber Inhalte nur schleppend um und hielt lange an hergebrachten Traditionen fest.
Anhänge über ermittelte Stiftungen auf dem Land (556–607), Bruderschaften (608–610), Hospitäler (611 f.) und »Dörfer mit zwei oder drei Pfarrkirchen« (613–619) stellen nochmal den enormen Fleiß von S. heraus und machen auf einen Blick anschaulich, dass er reiches Material zu präsentieren hat, das bisher nicht in diesem Umfang bekannt war. Ein Ortsregister (706–720), das nach dem Quellen- und Literaturverzeichnis (622–688) sowie einem Teil mit Farbabbildungen (689–704) erscheint, beschließt das Buch.
S.s Buch bietet für eine Neubewertung der ländlichen Reformation viele Beispiele, die in diesem Umfang unbekannt waren. Auf dieser Grundlage können nun manche Fragen durch weitere Forschungen vertieft werden. Insgesamt hätte eine stärkere Systematisierung – z. B. durch Platzierung der einen oder anderen Quelle in den Anmerkungen – der Präzisierung des Gedankengangs gedient.