Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1020–1022

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Junghans, Reinhard

Titel/Untertitel:

Geschichte als Argumentationsfeld für die Gegenwart. Arbeiten zur Luther- und Müntzerrezeption.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 240 S. m. Abb. = Herbergen der Christenheit, Sonderbd. 23. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-05235-6.

Rezensent:

Hermann Michael Niemann

Reinhard Junghans legt mit einer Darstellung seiner Sicht vom »Pa­radigmenwechsel der Betrachtungsweise der Wirkungsgeschichte zur Rezeptionsgeschichte« unter der Überschrift »Wirkungsgeschichte und/oder Rezeptionsgeschichte« (11–17) eine Basis für die folgenden Kapitel. »Die Lutherrezeption Johann Gottfried Herders« (19–47) spürt in Herders Gesamtwerk u. a. dem nach, wie Herder bei seiner Interpretation der biblischen Schöpfungsgeschichte Luther berücksichtigt, wie er Luthertexte zur Deutung seiner eigenen Gegenwart heranzieht.
Der Vf. arbeitet heraus, wie Herder in seinen Katechismusausgaben Luthers »reformatorische Wahrheiten« zeitbedingt neu sieht und Themen Luthers gewichtet; so habe Herder u. a. Luthers zentrales Thema »Rechtfertigung aus dem Glauben« nur am Rand erwähnt und »die »Vergebung der Sünden« deutlich weniger als Luther betont. Luthers Bibelübersetzung und der Beitrag zur Herausbildung der deutschen »Nationalsprache« spielt für Herder bekanntermaßen eine große Rolle. Insgesamt spürt der Vf. Veränderungen des Lutherbildes auf Herders Weg von Riga über Bückeburg bis Weimar nach, wobei Herder zwischen einer »orthodoxen sowie aufklärerischen Überbetonung des Denkens« als auch einer »Überbewertung des Gefühls durch die Pietisten« vermitteln wollte und sich als »Lutheraner, aber […] mit kritischer Distanz« verstand (43). Die Katechismusauslegung ist Herders am meisten aufgelegtes Buch, so analysiert das nächste Kapitel »Die Theologie Herders in seiner Katechismusarbeit« (49–82), die in Bückeburg 1771 begann, in Weimar zunächst mit einem »Privatkatechismus« und dann mit dem »Weimarer Landeskatechismus« weiterging, Letzterer 1797 gedruckt und später weit verbreitet. Dabei stellt Vf. auch die pädagogisch-didaktischen neben den theologischen Überlegungen Herders dar, das Ziel der »Bildung der Menschheit zur Humanität« auf der Grundlage von Luthers Kleinem Katechismus, Bibel und Kirchenliedern, beschreibt den Aufbau mit Einleitung und Hauptstücken sowie die Ausgaben und Rezensionen.
Der Vf. widmet ein wissenschaftsgeschichtlich besonders interessantes Kapitel (»Die Lutherbiographie Gerhard Ritters im Wandel der Zeiten«, 83–131) dem Freiburger Historiker Gerhard Ritter (6.4.1888–1.7.1967) anhand von dessen ungewöhnlich zahlreichen, seit 1923 immer wieder bearbeiteten Auflagen seiner Lutherbiographie, die auch in London, New York, Mexiko und Utrecht und nach seinem Tod noch als Fischer-Taschenbuch erschien (1985). Der Vf. verfolgt die Veränderungen und Entwicklungen nicht von Auflage zu Auflage, sondern kapitelweise: I. Werdejahre; II. Die deutsche Welt um 1517; III. Der Bruch mit Rom (1517–19); IV. Der Held der deutschen Nation (1520) (ab 1943: Der Reformator); V. Worms; VI. Die Wartburgepisode. Erste Sturmzeichen; VII. Sturmjahre (1522–25); VIII. Der Gründer der evangelischen Landeskirche. Das Schwergewicht liegt auf der Zeit bis 1525. Die Darstellung kann hier nicht im Detail vorgestellt werden. Der Vf. verfolgt auch Bezüge zu anderen Lutherdarstellungen und das Verhältnis von Ritters Darstellung zwischen religiöser und nationaler Lutherinterpretation. Er spürt den Quellen von Ritters Darstellung nach und stellt die Rezensionen dar. Der Vf. widmet sich den Differenzen zwischen Ritter und dem Tübinger (und späteren Kieler) Kirchenhistoriker Otto Scheel, die beide ein national-politisches Lutherbild vertraten, aber in der Theologie Luthers ganz verschiedene Ge­wichtungen vornahmen. Der Vf. erwähnt Ritters Beteiligung an den sogenannten »Denkschriften des Freiburger Kreises«, in Verbindung mit der Bekennenden Kirche verfasst. In »Kirchen und Welt« (1938) ging es ausgehend von Luthers Obrigkeitsverständnis darum, dass gegenwärtig Gehorsam gegenüber der Obrigkeit ende, wo die Freiheit des Evangeliums beginne und Gehorsamsverweigerung einsetze, wo sich Gesetze der Obrigkeit gegen göttliches Gebot richte. In »Politische Gemeinschaftsordnung« (1943) geht es um Luthers Lehre vom verborgenen Gott, »die Selbstverantwortlichkeit des Menschen vor Gott sowie die Herausbildung echter Gemeinschaft auf Grundlage christlicher Freiheit«. Diese Denkschrift bildete »eine der Grundlagen für das deutsche Grundgesetz« (125). Der Vf. würdigt die Lutherrezeption Ritters als »Dokument der Wandlungen in der national-konservativen Geschichtsschreibung, die sich in der Person Ritters am Ende auch den Werten der Demokratie und Menschenrechten öffnen konnte« (130).
Die Kapitel »Die deutschsprachige protestantische Katechismusliteratur 1750–1850« (133–152) und »Die deutschsprachigen Ka­techismusausgaben von Herder. Eine Bibliographie« (153–167) hätten im Anschluss an die Darstellung Herderscher Katechismusarbeit eingeordnet werden können und wirken hier etwas verloren.
Es folgen drei Kapitel zur Thomas-Müntzer-Rezeption: »Aufstieg und Niedergang des kommunistischen Müntzerbildes« (169–200) liest sich für jemanden, der beides in der DDR miterlebt hat, doppelt spannend. Der Vf. unterscheidet bei der Analyse »historischen Informationsgehalt« und »ideologische Autorintentionen«, achtet auf die benutzten Quellen und Art der Verarbeitung. Er setzt bei Friedrich Engels ein, der seinen Bauernkriegstext ohne Quellenkenntnis nur auf das stärker am politischen Handeln als an der Theologie Müntzers interessierte Buch des Pfarrers Wilhelm Zimmermann stützt: Engels kommt auf dieser Grundlage zu einem Revolutionär Müntzer, »der an den Kommunismus ›streift‹, weil er eine klassenlose Gesellschaft angestrebt habe« (171). Davon wichen andere Interpretationen ab, wie die von Ferdinand Lassalle, aber auch Karl Kautsky, der sich intensiver mit den Quellen und der Müntzerliteratur beschäftigte und – ähnlich A. Bebel – »praktisch-politische Fähigkeiten« Müntzers hervorhebt (174). 1921 entwarf Ernst Bloch ein Müntzerbild, das ausführlicher als alle vor ihm die Theologie Müntzers berücksichtigte; der »historische Informationsgehalt« zu Müntzer war defizitär. In den 20er Jahren griffen Autoren der KPD auf Engels’ Müntzerbild zurück und betonten die »Machtfrage« und »die Bündnispolitik zwischen Arbeitern und Bauern«. Einige Autoren nutzten Müntzer, um im Kampf gegen Hitler alle »revolutionär-fortschrittlichen Kräfte« in einer »antifaschistischen Front« zu vereinen, oder, wie Alexander Abusch, konstruierten eine schroffe Differenz zwischen dem »revolutionären Müntzer« und dem »reaktionären Luther«.
In der Schulbuchliteratur der (frühen) DDR kommt Müntzer als Verteidiger der Armen gegen die Reichen vor, der den Kampf des Volkes für seine eigene Herrschaft propagiert (der sich in der DDR erfüllt habe!). Der Vf. beschreibt auch eine gegenläufige Strömung in der DDR-Historik, zu der der marxistische Historiker Max Steinmetz, ein Schüler Gerhard Ritters (!), gehörte, auch Steinmetz’ Schüler Manfred Bensing, die sich um eine etwas exaktere historische Grundierung des Müntzerbildes bemühten und Müntzers Theologie ernster nahmen, sie aber als »Hülle« für »kommunis-tische Ideen Müntzers« erklärten, also innerhalb der Konzeption einer »frühbürgerlichen Revolution« blieben. Eine deutlichere Veränderung des marxistischen Müntzerbildes bahnte sich langsam seit dem 450. Reformationsjubiläum 1967 und dem 450. Bauernkriegsjubiläum 1975 an und fand einen Höhepunkt zum 500. Ge­burtstag Luthers 1983. Damals »vollzogen die marxistischen Historiker eine Aufwertung der Theologie in gesellschaftlichen Prozessen« (187), was evtl. unter anderem mit der seit 1978 veränderten Kirchenpolitik des DDR-Regimes, der prekärer werdenden ökonomischen Lage der DDR sowie dem Streben nach internationaler Anerkennung zusammenhing. Mit der staatlicherseits deutlichen Aufwertung Luthers verlor Müntzer an Bedeutung (188). Der Vf. betont aber, dass im Unterschied zu den marxistischen Historikern das Luther- und Müntzerbild in den DDR-Schulbüchern bis 1989 im Wesentlichen unverändert im Rahmen von Klasseninteressen beschrieben wurde.
Das Müntzer-Gedenken 1989 geriet in den Abwärtsstrudel der untergehenden DDR. Am 11.3.1988 konstituierte sich das Thomas-Müntzer-Komitee der DDR, am 15./16.11.1988 konnte an der Sek-tion Theologie der Karl-Marx-Universität Leipzig ein Kolloquium »Sozialethische Implikationen reformatorischer Theologie« im Hauptgebäude der Universität in aller Öffentlichkeit stattfinden, wo über Luther, Müntzer und die Täufer von Theologen und einem Marxisten referiert wurde und ein Zuhörer die Veranstaltung »als ›Demontage‹ des kommunistischen Müntzerbildes« bezeichnete (191). Auf der 2. Tagung des staatlichen Müntzer-Komitees am 19.1.1989 stellte E. Honecker die denkwürdige Be­hauptung auf: »Die Mauer wird […] so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind« (ebd.) – weniger als 300 Tage vor dem Mauerfall. Zwei wichtige Konferenzen folgten noch, Ende August in der Akademie der Wissenschaften der DDR und des Hochschulwesens in Halle und im September diejenige des Kirchenbundes der DDR in Erfurt. Inzwischen betonte selbst ein marxistischer Staatsfunktionär wie der Präsident des Nationalrates d er Nationalen Front, dass sich christliches und revolutionäres (gemeint: marxistisch-kommunistisches, H. M. N.) Erbe nicht widersprechen müssten. S. Bräuer gab als Ergebnis des Müntzerjahres einen Sammelband »Der Theologe Thomas Müntzer« mit Beiträgen von Theologen und Historikern, auch marxistischen, heraus.
Der Vf. erwähnt zahllose weitere Beiträge zum Müntzerjahr, Konferenzen der DDR-Massenorganisationen, auch Ausstellungen, Festtage, Radiobeiträge, Briefmarken, das Bauernkriegspano-rama W. Tübkes in Bad Frankenhausen u. v. a. Kulturminister D. Keller äußerte bei der Abschlussveranstaltung des Müntzerjahres am 20.12.1989 »prophetisch«, »die gegenwärtige Volksbewegung in der DDR [praktiziere] die prophetische Einsicht Müntzers, die Gewalt gehöre dem Volke« (196). Der Vf. betont abschließend, dass dasjenige, was »in den kommunistischen Müntzer hineininterpretiert wurde, mehr über die Autoren als über Müntzer« ausgesagt habe (198). Unverfroren und unbelehrbar mutet an, dass bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18.3.1990 die »Vereinigte Linke« mit dem Müntzerzitat warb: »Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk.« (199)
Die abschließenden Beiträge »Das Müntzerbild in den Ge­schichtslehrbüchern des ›Dritten Reiches‹ im Vergleich mit denen der ausgehenden Weimarer Republik« (201–215) und »Die Müntzerrezeption in den Geschichtslehrbüchern der DDR« (217–232) bilden eine fleißige Beschreibung ideologischer Verbohrtheit und mangelnder historischer Korrektheit, die die Leserschaft des vorhergehenden Artikels nicht verwundert, wenn z. B. in der DDR die sogenannte »Wehrerziehung« an Schulen u. a. mit Verweis auf Müntzer begründet wird (225; vgl. 226) und selbst ein bei G. Ritter ausgebildeter Historiker wie Max Steinmetz sich zu der Behauptung verstieg, dass »die Ideologie Müntzers, die alles von Gott erwartete, […] der Grund für dessen Niederlage« gewesen sei (227).
Personenregister (233–237) und Abkürzungsverzeichnis (238–240) beschließen den Band.