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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1003–1005

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bormann, Lukas

Titel/Untertitel:

Theologie des Neuen Testaments. Grund-linien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 424 S. m. 13 Abb. = Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft, UTB 4838. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-8252-4838-3.

Rezensent:

Gudrun Guttenberger

Lukas Bormanns »Theologie des Neuen Testaments« ist – wie schon typographisch erkennbar (Gliederungsstichpunkte am Rand, Zi-tate werden abgesetzt, Bibelstellen zitiert, Merksätze grau unterlegt) – ein Studienbuch. Die Kenntnis der alten Sprachen ist für die Lektüre nicht erforderlich. Jedes Kapitel beginnt mit einer Graphik, die als eigenständiger, gewollt spannungsvoller Impuls verstanden werden soll (13). Um unter den gegenwärtigen Anforderungen an Studienbücher eine »Theologie des Neuen Testaments« zu schreiben, bedarf es einer selbstbewussten und angesichts der notorischen Probleme dieses Genres sogar kühnen Entschiedenheit zur Sinnkonstituierung. B. gelingt es, auf 400 Seiten einen auch für Studierende in den Lehramtsstudiengängen gut lesbaren, konzeptionell nicht spannungsfreien, aber übersichtlichen und mit einem dezidiert theologischen Anspruch versehenen Gesamtentwurf vorzulegen.
Das Profil seiner »Theologie« formuliert B. in der Einleitung (11–15): »Der offene Begriff von Theologie« – nämlich das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch (36) –, »die Reflexion der Darstellungsform einer Theologie, die Orientierung an den Eigenschaften Gottes« – gemeint ist das Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit (Ex 34,6; Ps 145,8) – »und die Analyse der gewählten Sprach- und Ausdrucksformen stellen die vier übergreifenden Perspektiven dar, die dieser Entwurf verfolgt« (12).
B. wählt einen historisch orientierten Zugang, der zudem Traditionslinien berücksichtigt; insbesondere gegen Ende orientiert er sich aber auch einfach an der kanonischen Reihenfolge. Er beginnt mit der Darstellung der Gedankenwelt Jesu (81–116), fügt zwei Ka­pitel über die Theologie des Paulus an (Gott und Christus [117–144]; Mensch [145–175]), deren Weiterentwicklung in 2Thess, Kol und Eph sowie in den Pastoralbriefen das folgende Kapitel gewidmet ist. Es folgen fünf Kapitel zur Jesustradition (Q: 207–227, Mk: 229–258, Mt: 259–291; Lk/Apg: 293–323; Joh: 325–358). Am Ende stehen die katholischen Briefe (359–386, darunter überraschenderweise auch die Joh-Briefe) und die Apokalypse (387–411). Vorangestellt sind Ka­pitel zur Forschungsgeschichte (17–40) und zum antiken Judentum (41–80). Es fehlen Reflexionen über den Kanon und den »Part-ing of the Ways«-Prozess.
Den Schwerpunkt des forschungsgeschichtlichen Kapitels legt B. auf die seit den 90er Jahren erschienenen »Theologien«, die er drei Typen zuordnet: dem an der systematischen Theologie orientierten »theologischen« (Wilckens, Childs, Hahn, Thüsing, Stuhlmacher, Hübner), dem an den Kulturwissenschaften orientierten »untheologischen« (Berger, Theißen, Zeller, Räisänen) sowie dem an der Ge­schichtswissenschaft orientierten »erzählenden« (Schnelle, Dunn, Wright). B.s Hauptgesprächspartner sind Vertreter des »untheologischen« und des »erzählenden« Typos.
Den Platz Jesu in einer Theologie des Neuen Testaments begründet B. nicht über eine implizite Christologie (das Selbstverständnis Jesu bestimmt er als prophetisch, 109–112), sondern durch dessen Rede vom (Königs-)Gott, den dieser vor allem in Anschluss an die Theologie des Psalters (90) als fürsorglichen Schöpfer vorstelle (97).
Die Skizzierung der paulinischen Theologie konzentriert B. auf die Darstellung des »dynamische[n] und relationale[n] Gottes-verständnis[ses]« und das Konzept des Glaubens (121). Hauptgesprächspartner sind Wolter, Dunn und Schnelle (119 f.). B. setzt beim vorchristlichen Paulus an (biographische Notizen und Röm 1, 18–32; 7,7–25 [!]; 9,1–5; 1Thess 1,9 f.), den er in einem exklusiven, an Erwählung und strikter Toraobservanz orientierten Judentum verortet, das für Nichtjuden ein Vernichtungsgericht erwartet habe. Die »Erfahrung von der Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz trotz Torabefolgung« (124) wird bereits für den vorchristlichen Paulus postuliert (Röm 7,7–25). Die als paradigmatische Konversion verstandene Berufung bestimmt B. als Neustrukturierung, durch die der unter dem Fluch gewähnte Gekreuzigte in herausgehobener Stellung im Thronraum Gottes erkannt worden sei (125 f.) und wodurch die Nichtjuden aus der Gottesferne in dessen Nähe gerückt worden seien. Das zweite Pauluskapitel stellt die (unabgeschlossene, 162) Debatte um die lutherische und die »neue« Paulusdeutung (knapp zu πίστις χριστοῦ [52], Ablehnung von Gen. subj.) dar. Das Toraverständnis bestimmt B. als spannungsvoll, wenn nicht widersprüchlich; mittels der Abrahamsfigur sieht er es im antik-jüdischen Diskurs verankert. Die Kreuzestheologie zählt er zu den Charakteristika paulinischer Theologie (164). Das Kapitel über die Deuteropaulinen, die B. als Schriften einer »Textgemeinschaft« versteht, ist thematisch (Gemeinde, Kirche; Gott, Mensch; Christologie, Eschatologie, Ethik, Paulusbild) geordnet. Die Be­sprechung der Theologie der Pastoralbriefe erfolgt anhand von zentralen Begriffen (Lehre, Frömmigkeit, Erscheinung Christi, Retter, Haus Gottes, Irrlehrer).
Die vier der Jesustradition gewidmeten Kapitel folgen demselben Darstellungsschema (einleitungswissenschaftliche Grundinformationen, Sprachformen, Narration, Gottesvorstellung, Chris-tologie, Eigenarten). Für die Theologie der Logienquelle stellt B. ein dtr Geschichtsbild als leitend heraus, das auf den Tag des Menschensohns als Gerichtstag zulaufe, und in den das Wirken und der Tod (des Täufers und) Jesu eingezeichnet werde. Die Spannung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wird mit Verweis auf den Ge­richtsgedanken und die Vorstellung Gottes als fürsorglicher Vater herausgearbeitet (Ethik, Q 6,36; Vatergebet, 218). Die Narration des Markusevangeliums wird durch die Besprechung von sechs anhand der Hoheitstitel ausgewählten Schlüsselszenen (239) erschlossen. B. vertritt eine politische, romkritische Interpretation (233). Der Gottesvorstellung des MkEv fehle der Pol Barmherzigkeit (246.256); sie hebe die Transzendenz und Distanz Gottes hervor (246 f.). Das Matthäusevangelium stellt B. schon anhand der Sprachfor men als im antiken Judentum tief verwurzelt vor (261–272). Der Gottesvorstellung attestiert er eine besondere Nähe zu Ex 34,6; Ps 145, verbunden mit der besonderen Betonung der Gerechtigkeit. Das Verständnis der Tora bestimmt B. als Selbstmissverständnis: Die mt Gemeinde sei dazu bereit, »die weiten Grenzen des Judentums zu überschreiten« (280; vgl. 287), gestehe aber die damit gegebene Torakritik nicht ein. Mt verstehe die »Sonderstellung Israels als heilsgeschichtliches Faktum der Vergangenheit, nicht als bleibende Notwendigkeit« (290). Der Analyse der Theologie des lk Doppelwerks sieht B. durch dessen »historisch-narrative Ausrichtung […] besondere Grenzen gesetzt« (296). In der knappen Skizze der lk Narration führt er die Deutung von Lk/Apg als Heilsgeschichte fort (300). Die Gottesvorstellung sei vor allem von dem Bild Gottes als planvoller Lenker der Geschichte bestimmt und lege den Akzent ganz auf die Seite der Barmherzigkeit (305). Hellenistischer »Gottesspekulation« (302) wird über die »gemäßigte natürliche« Theo-logie des Diasporajudentums (303) ein indirekter Einfluss zu­geschrieben.
Das Johannesevangelium erschließt B. zunächst durch seine Sprachform, die er durch die Spannung zwischen der subjektiven, theologischen Erzählperspektive und einem erzählerischen Realismus (329) bestimmt sieht. B. weist eindrücklich auf, wie die Erzählung den Leser in einer Weise einbeziehe, die es diesem erlaube, die »Fragen seiner Existenz« (334) beim Lesen des Joh zu beantworten. Die Rekonstruktion der Theologie des Joh wird durch einen be­grifflichen Zugriff weitergeführt und als Inszenierung der Doxa Gottes interpretiert. Das Kapitel schließt mit einer kritischen Be­sprechung der Bewertung des Evangeliums als Höhepunkt der neutestamentlichen Theologie ab.
Es steht zu erwarten, dass sich der Band im Studienbetrieb – be­sonders in den Lehramtsstudiengängen – durchsetzen wird. Er kommt den Lerninteressen vieler Studierenden entgegen.