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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1001–1003

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan, u. Michael Rydryck

Titel/Untertitel:

Paulus – Das Kapital eines Reisenden. Die Apostelgeschichte als sozialhistorische Quelle.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2018. 158 S. = Stuttgarter Bibelstudien, 241. Kart. EUR 25,00 ISBN 978-3-460-03414-3.

Rezensent:

Manfred Lang

Dieser Sammelband geht zurück auf einen Studientag an der Goethe-Universität Frankfurt (Main) und umfasst folgende Teil-Bei-träge:
Stefan Alkier, Forschungsgeschichtliche Bemerkungen zur Frage nach dem historischen Quellenwert der Apostelgeschichte des Lukas, 8–36.
Dieser forschungsgeschichtliche Durchgang benennt wichtige Stationen der Apostelgeschichte-Forschung seit dem 17. Jh. Kritisch: So sehr die Na­men Reimarus und Semler wirkmächtig sind, so wenig stehen sie im 17. Jh. allein hinsichtlich der Fragen, wie antike Texte gelesen werden und zu verstehen sind. Die kulturhistorisch motivierten Analysen der sogenannten Observationsliteratur, die in J. J. Wettsteins monumentalem Doppelband einen gewissen Abschluss fanden, zeigen doch, dass der Vergleich als Ausdruck historischen Quellenwerts eine ernstzunehmende Größe gewesen ist – und bis zum heutigen Tag auch geblieben ist. Sodann dürfte die gebotene neuere Forschung kaum überzeugend von Martin Dibelius zu Eckhard Plümacher springen dürfen, ohne die Arbeiten von Martin Hengel zu nennen – wie immer man dazu stehen mag –, aber auch die komplette neuere Kommentar- sowie die anglophone Literatur.
Alexander Weiß, Sozialgeschichtliche Aspekte der Apostelgeschichte, 37–58.
Der Vf. präzisiert, vertieft und verbreitert seine Thesen, die er zuvor in seiner Monographie vorgestellt hat. Das Gespräch mit Althistorikern wird durch diesen sicherlich sehr hilfreichen Aufsatz verstärkt und weiter vorangetrieben. Die unterschiedlichen hermeneutischen wie methodischen Voraussetzungen kommen gleichwohl deutlich zutage: Besagt ein Name auf einer Inschrift schon gleich die Identität mit einer neutestamentlichen Person? Die Problematik, wer sich genau hinter Sergius Paullus verbirgt, läuft auf diese Identifizierung zu, ist aber notwendigerweise noch nicht derart gelöst, dass die Epigraphik die ›objektiven Belege‹ brächte. Seiner Kritik an den sozialgeschichtlichen Thesen Stegemanns/Stegemanns und Theißens, wonach das Christentum eine Unterschicht-Gruppierung gewesen sei, stimme ich gleichwohl zu.
Michael Rydryck, Das Kapital des Paulus. Ein Beitrag zur sozialhis-torischen Plausibilität der Apostelgeschichte, 59–84.
Der interessante Gedanke, wonach es im Anschluss an die Analysen von K. Christ und moderner althistorischer Arbeiten in der Kaiserzeit eine nicht zu unterschätzende ›Mittelschicht‹ gegeben habe, wirft neue Analyse-Möglichkeiten auf: das Bürgerrecht des Paulus muss nicht mehr gegen die Quellen problematisiert werden, weil er als ein Glied dieser Mittelschicht erkennbar wird. Stattdessen bevorzugt der Vf. im Anschluss an die Arbeiten von M. Sommer und P. Bourdieu ein Kapitalsorten-Modell (das kulturelle, symbolische, soziale und ökonomische Kapital), das eingeordnet ist in eine vielschichtige und facettenreiche Habitus-Konstruktion. Kann man der Überlegung zustimmen, wonach eine Vernachlässigung der ›Mittelschicht(en)‹ schwer vorstellbar ist, so bleiben die althistorischen Belege leider völlig aus. Auf diese Weise verlieren die Überlegungen zur Apostelgeschichte ihre kulturhistorische Signatur.
Dorothea Rohde, Von Stadt zu Stadt. Paulos als wandernder Handwerker und die ökonomisch motivierte Mobilität in der frühen Kaiserzeit, 85–117.
Paulus als wandernder Handwerker zählte, so die Vfn., etwa zu einem Achtel oder Zehntel der Bevölkerung, wobei die Apostelgeschichte das einzige ausführliche Zeugnis für ein derartiges Verhalten ist. Dabei fällt auf, dass Paulus sich in erheblicher Weise mobil verhält – im Gegensatz zu dem, was in seiner Zeit wohl üblich gewesen ist. So sehr hier die Vfn. dieses Profil betont und sicherlich ein Charakteristikum benennen kann, so ereilt sie doch gerade das Problem, das sie zu Anfang mit aller Deutlichkeit benennt: Konkretere Zahlen und Fakten der Mobilität fehlen uns genauso wie die (potentielle) Reisetätigkeit der Handwerker. Dabei ist ganz sicher unstrittig, dass ein derartiger Austausch stattgefunden hat; nicht nur die literarischen, sondern die kulturellen Translationen überhaupt legen im Mittelmeerraum beredtes Zeugnis ab, die die Vfn. allerdings als für breitere Bevölkerungsschichten nicht charakteristisch ansieht (109). Allein, über konkrete Zahlen zu reden, ist m. E. sehr spekulativ (110).
Ulrich Huttner, Unterwegs im Mäandertal. Überlegungen zur Mo­bilität des Paulus, 118–148.
In die ähnliche Richtung hinsichtlich der Frage antiker Mobilität weist auch der Artikel vom Vf., der herausstreicht, Reisen seien ein Prestige-gewinn für die jeweilige Person, so etwa Claudius Chionis aus Didyma. Paulus tritt hier eher als eine Art Handlungsreisender denn als Exporthändler in Erscheinung, dessen Prestige jedoch weit weniger öffentlich zur Geltung kam, als dies anhand der (wenigen) antiken Fälle zu erkennen wäre. Im weiteren Verlauf stellt der Vf. verschiedene Typen unter den Reisenden vor, mit denen Paulus vergleichbar war: der reisende Sophist, der reisende Handwerker sowie Wunderheiler (Arzt und Pilger). Im zweiten Bereich zeigt sich Paulus »als Repräsentant einer gewerblichen Spezialisierung […], die generell in der römischen Kaiserzeit Platz greift« (135). Generell ist er für seine Zeitgenossen aber auf allen drei genannten Ebenen erkennbar gewesen. Auch im letzten Bereich, demjenigen des wandernden, seriösen Arztes, gehört Paulus zu einem komplexen Rollenbild, das verständlich ist in der Antike.
Der Band besticht durch die zugrundeliegende These, wonach das sozialgeschichtliche Modell einer fehlenden Mittelschicht als unzureichend empfunden und kritisiert wird; einer derartigen Kritik kann ich grundsätzlich durchaus zustimmen. Wie bei vielen anderen modernen Anleihen in methodischer Hinsicht stellt sich mir die Frage, ob nicht der Kern der These Bourdieus wahr ist, dass derartige gesellschaftliche Konstruktionen einhergehen mit Fragen der Gewinnschöpfung: Nicht alles ist gleich möglich oder gleich un­möglich (so in: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992, 50). In welcher Weise ist dieser zentrale Gedanke für die neutestamentlichen Texte wichtig bzw. warum kann er gefahrlos und ohne weiterführende Argumentation aus der eigenen Theoriebildung ausgeblendet werden? Gleichwohl bleibt das Bändchen eine anregende Lektüre, die die Forschung zur Apostelgeschichte hoffentlich stimulieren wird.