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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

997–999

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schmid, Konrad

Titel/Untertitel:

Theologie des Alten Testaments.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XVIII, 414 S. = Neue Theologische Grundrisse. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-156630-1.

Rezensent:

Markus Witte

Für eine Darstellung des Redens von und Nachdenkens über Gott im Alten Testament, die dessen literarischer und historischer Komplexität gerecht wird, gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten:
– erstens die kommentierende Nacherzählung, die sich an der Abfolge der alttestamentlichen Schriften orientiert und dabei literar- und religionsgeschichtliche Erkenntnisse integriert,
– zweitens die systematische Übersicht, welche die Grenzen der alttestamentlichen Bücher und der in ihnen verwendeten literarischen Gattungen bewusst aufbricht und die sich auf ausgewählte Begriffe, Motive oder Themen konzentriert,
– drittens die historisch-genetische Beschreibung der einzelnen im Alten Testament enthaltenen Theologien, die sich an deren literarischer Entstehung und religionsgeschichtlichen Kontexten ausrichtet.
Das hier vorgestellte Werk des Züricher Alttestamentlers Konrad Schmid gehört zu dem dritten Modell. S.s Ausgangspunkt ist der literarische Charakter des Alten Testaments als Produkt aktualisierender Fortschreibung bzw. schriftgelehrter Traditionsliteratur. Sein Ziel ist die Nachzeichnung der theologischen Denkbe-wegungen innerhalb des Alten Testaments, die sich dem steten Wechsel von Interpretation und Rezeption vielfältiger Gotteserfahrungen und menschlicher Selbstreflexion verdanken und die sich in Anlehnung an Rudolf Bultmann nach impliziter und expliziter Theologie unterscheiden lassen (vgl. R. Bultmann, Epilegomena zur Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., durchgesehen und ergänzt von O. Merk, Tübingen 1984, 585). Methodisch leitend sind für S. die Traditions- und die Redaktionsgeschichte. Theologie er­scheint wesentlich als Theologiegeschichte, ihre Einheit findet sie in der Geschichte theologisch gedeuteter und deutender Erfahrung. Eine theologische Mitte und Normativität besitzt das Alte Testament nach S. allenfalls extern aus der Perspektive seiner nachalttestamentlichen Rezeptions-, Wirkungs- und Aneignungsgeschichten. Die Erhebung der aktuellen und gegenwartsorientierenden Bedeutung des Alten Testaments delegiert S. – trotz seiner grundsätzlichen Verpflichtung gegenüber einer existentialen In­terpretation – an die Hermeneutik und an gegenwartsorientierte Disziplinen der Theologie.
Die ersten 112 Seiten des Buches sind grundlegenden terminologischen und forschungsgeschichtlichen Fragen gewidmet. Dieser problemorientierte Teil basiert auf S.s Monographie Gibt es Theologie im Alten Testament? Zum Theologiebegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft (Zürich 2013) und definiert Theologie des Alten Testaments als Rekonstruktion von theologischen Reflexionen und Synthesen im Alten Testament. Das Alte Testament wird dabei als »Zeugnis einer literarischen Religion, die so nie gelebt worden ist«, beschrieben (12). Vor diesem Hintergrund versteht sich die von S. vertretene klare Unterscheidung zwischen einer Theologie des Alten Testaments, einer Religionsgeschichte Israels und einer christlichen oder einer jüdischen Theologie. Er selbst bietet eine »alttestamentliche Theologie des Alten Testaments oder eine he­bräisch-biblische Theologie der Hebräischen Bibel« (389). Die ka­nonsgeschichtlich und hermeneutisch angemessene Differenzierung zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament bleibt in seinem gesamten Werk präsent und wird einleitend hinsichtlich des unterschiedlichen Umfangs und der variierenden Anordnung der Bücher sowie der unterschiedlichen Rezeptionsgemeinschaften exemplarisch vor Augen geführt.
Weitere 112 Seiten sind dem theologischen Profil der drei Teile der Hebräischen Bibel (Tora, Neviim, Ketuvim) sowie theologiegeschichtlichen Grundlinien der Literaturgeschichte gewidmet. Hier werden die Herausbildungen wesentlicher theologischer Vorstellungskomplexe in der Hebräischen Bibel als Reaktionen auf die politischen und kulturellen Umwälzungen in Israel und Juda vom 8. Jh. v. Chr. bis in das 2. Jh. v. Chr. interpretiert. So wird die israelitisch-jüdische Religions- und Theologiegeschichte mit politischen Ereignissen und kulturellen Entwicklungen in der Zeit der neuassyrischen, neubabylonischen, persischen und schließlich griechischen Hegemonie über den Nahen Osten korreliert. Diese Ausführungen bündeln S.s Gesamtdarstellung der Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung (Darmstadt 2008), aus theologischer Perspektive. Das heißt: Hier werden theologische Positionen in ihrer historischen Abfolge von der Jerusalemer Zionstheologie aus neuassyrischer Zeit über theokratische und eschatologische Vorstellungen der Perserzeit bis hin zur Apokalyptik und Märtyrertheologie der hellenistischen Zeit dargestellt. Als wesentliche Katalysatoren der Entwicklung theologischer Ideen, wie sie sich in der Vätergeschichte und in den Erzählungen von Saul, David und Salomo sowie in den rechtlichen, kultischen, prophetischen und weisheitlichen Überlieferungen niedergeschlagen haben, werden der Untergang des sogenannten Nordreichs 722 v. Chr. und der Untergang Judas 587 v. Chr. gesehen. Literatur-, Rechts- und Religionsgeschichte erhellen demgemäß das Wesen der Theologie des Alten Testaments als eine im dynamischen Austausch von Schriftwerdung und Schriftauslegung, von Tradition und Redaktion, von Integration und Adaption, entstandene, vielstimmige Rede von Gott. Die Theologie des Alten Testaments erscheint so als ein ge­wachsener, redaktionell hergestellter pluraler Dialog.
Der umfangreichste Teil des Buchs (164 Seiten) ist ausgewählten theologischen Themen im Alten Testament gewidmet. Nach einer kurzen Darstellung der literarischen Gattungen und Gestaltungen theologischer Aussagen im Alten Testament werden in diachroner Perspektive (1.) die Entwicklung Jahwes von einem Berg- und Gewittergott zu dem einen und einzigen Weltengott, (2.) Schöpfung (unter dem Titel »Von der Gegenwelt zur Lebenswelt«), (3.) Gott und Ge­schichte, (4.) Politische Theologie (u. a. mit den Aspekten Bund, Verh eißungen, Priesterschrift), (5.) Recht und Gesetz, (6.) Tempelkult und Opfer, (7.) Staatsvolk, Gottesvolk und Individuum, (8) Königtum, Theokratie und Herrschererwartungen (»Messias«), (9) Zion und Sinai, (10) Deutungen des Menschen (entsprechend der Grundüberzeugung von der Interdependenz theologischer und anthropologischer Aussagen) sowie (11) Vielfalt und Einheit alttestamentlicher Theologie behandelt. Diesen sachlich und strukturell auf unterschiedlichen Ebenen liegenden Themen ist jeweils eine forschungsgeschichtliche Hinführung vorangestellt. In der Entfaltung selbst kommen immer wieder ausführlich ausgewählte alttestamentliche Texte (in der Übersetzung von S.) selbst zu Wort. Gegenüber einer Ausrichtung an klassischen theologischen Begriffen ist – gemäß dem grundsätzlichen Ansatz des Buches – auch die Binnengliederung der thematischen Entfaltungen literatur- und religionsgeschichtlich ausgerichtet. Termini wie Barmherzigkeit, Erlösung, Gnade, Heiligkeit, Sühne, Sünde oder Zeit kommen trotz einer be­sonderen Feingliedrigkeit im Inhaltsverzeichnis nicht vor. Auch im Register sind sie nicht oder nur punktuell aufgeführt.
Ein zehnseitiges Abschlusskapitel betont nochmals den theologischen Eigenwert des Alten Testaments und der mittels historischer Rekonstruktion und Beschreibung aus ihm erhobenen Theologie in ihrer Geschichte und verweist für seine Bedeutung in-nerhalb der jüdischen und der christlichen Theologie auf die nachalttestamentlichen Rezeptionen als Hebräische Bibel im Judentum und als Altes Testament im Christentum.
Entsprechend seines Charakters als Lehrbuch in der wieder aufgelegten Reihe der Neuen Theologischen Grundrisse, in deren Rahmen einst die ebenso kompakte wie positionale, systematisch fo­kussierte Theologie des Alten Testaments von Ludwig Köhler (1936, zweite Auflage 1947) erschien, wird S.s Werk durch Stichworte und prägnante Zusammenfassungen an der Randmarginalie gut er­schlossen. Den auf neun Kapitel verteilten 42 Paragraphen des Buches sind jeweils Bibliographien vorangestellt, die einen repräsentativen und aktuellen Überblick über einschlägige Studien protestantischer, römisch-katholischer und jüdischer Herkunft geben. Jeder der 42 Paragraphen ist gut für sich lesbar. Der Fußnotenapparat ist schmal gehalten und nennt zumeist zusätzliche, zur Vertiefung gedachte Lesehinweise. Ein Stellen- und Sachregister sowie eine Zusammenstellung behandelter hebräischer und griechischer Wörter beschließen das zum intensiven Studium einladende Buch, das S. selbst nur als eine Skizze und als einen kritikwürdigen und kritikbedürftigen Entwurf bezeichnet (VI). Sein besonderes Profil besteht in der konsequenten Anwendung der redaktionsgeschichtlichen Forschung auf die Darstellung der in der Hebräischen Bibel bzw. im Alten Testament versammelten Theologien und in seiner entschiedenen Forderung, die Theologie des Alten Testaments als einen konstitutiven Teil der alttestamentlichen – und damit der gesamttheologischen – Forschungsdiskussion zu betrachten.