Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

995–997

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Melton, Brittany N.

Titel/Untertitel:

Where is God in the Megilloth? A Dialogue on the Ambiguity of Divine Presence and Absence.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. 189 S. = Oudtestamentische Studiën, 73. Geb. EUR 104,00. ISBN 978-90-04-36870-5.

Rezensent:

Marie-Theres Wacker

Brittany N. Melton, die als Affiliated lecturer of Old Testament an der Universität Cambrige/UK lehrt, hat mit der vorliegenden Mo­nographie an der dortigen Faculty of Divinity den Grad des PhD erworben. Wie bereits der Titel nahelegt, versteht sich die Arbeit als Beitrag zu einer biblischen Theologie des Alten Testaments. Mit den »Megillot«, den fünf Schriftrollen, die als Festlesungen für Pesach (Hoheslied), Schavu‘ot (Rut), Tisch’a be’Av/Trauertag der Tempelzerstörung (Klagelieder), Sukkot (Qohelet) und Purim (Es­ter) gelten, richtet sich M.s Aufmerksamkeit auf biblische Bücher, die in Theologien des Alten Testaments eine eher marginale Rolle spielen. Die Beobachtung aber, dass in keiner dieser fünf Schriften Gott sprechend erscheint und im Esterbuch so wenig wie im Ho­henlied explizit von Gott die Rede ist, lässt vermuten, dass sie doch einen spezifischen theologischen Beitrag bereithalten. Wenn man die differenzierten Formen und Weisen der »literarischen« Präsenz bzw. Absenz Gottes in diesen fünf Schriften analysiert, wird man weitergeführt zu theologischen Fragen, die um die Anwesenheit bzw. Abwesenheit Gottes im Leben einer Gemeinschaft oder auch der einzelnen Gott-Gläubigen kreisen. Damit ist das theologische Zentralthema benannt, das M. anhand der Megillot explorieren will und das sie in die Grundfrage fasst: »Wo ist Gott in den Megillot?«
Kapitel 1 bietet einen Forschungsbericht zum Thema der Anwesenheit/Abwesenheit Gottes in Schriften der Hebräischen Bibel und besonders zu den Megillot; Kapitel 2 stellt die gewählte Methode vor, die im Wesentlichen darin besteht, dass die fünf Schriften, in ihrem jeweiligen literarischen Zusammenhang wahrgenommen, in einen intertextuellen Dialog miteinander gebracht werden. Dies geschieht in Kapitel 3 unter dem Leitmotiv der »Abwesenheit« bzw. »Verlassenheit«. Das Fehlen expliziter Gott-Rede im Esterbuch und im Hohenlied war, so zeigt M., einer der Gründe, diesen Schriften überhaupt theologische Signifikanz zuzusprechen, während andere darauf gerade deren theologische Bedeutung gebaut haben. Das permanent gapping bzgl. der Gottesfrage lässt keine eindeutige Aussage zu. In der Figur der Witwe in den Klageliedern (Jerusalem) und dem Rutbuch (Noomi) konzentriert sich die Klage der Gottverlassenheit, wird Gottes Präsenz aber gerade vorausgesetzt bzw. als oppressive presence erfahren. Kapitel 4 dagegen widmet sich der göttlichen »Anwesenheit«, die an den beiden Ausdrucksformen einer expliziten Rede von Gott und einer eher in Anspielungen verbleibenden Rhetorik festgemacht wird. Im Dialog zwischen den Klageliedern, dem Rutbuch und Qohelet ist in jeweils unterschiedlicher Weise eine Spannung zwischen Gottes-»Glaube« und Gottes-»Erfahrung« zu konstatieren; die Bildwelt von Tempel und Paradiesgarten, wie sie im Hohenlied und auch in den Klageliedern zu finden ist, konnotiert göttliche Anwesenheit. Kapitel 5 kreist um die Frage der Providenz/Vorsehung Gottes, aufgeschlüsselt nach den Aspekten Vorsehung versus Zufall (Rut und Qohelet) und göttlicher Lenkung versus menschlichem Handeln (Ester und Rut). Kapitel 6 geht dem »Schweigen Gottes« in allen Megillot nach, um Anwesenheit bzw. Abwesenheit Gottes daran zu bestimmen. Das letzte Kapitel kommt zu der Schlussfolgerung, dass im Blick auf die fünf Rollen die Frage nach Anwesenheit oder Abwesenheit Gottes eine falsche Alternative darstellt. Statt die vielschichtigen Befunde zu vereindeutigen, sollte gerade die Komplexität und unhintergehbare Ambiguität des Befundes ernstgenommen werden. Am besten sei Gott in den Megillot wohl als »elusive« zu beschreiben (184 f.).
Mit dem Motiv der An- bzw. Abwesenheit Gottes hat M. eine theologische Spur aufgenommen, der sie selbst auf dem Hintergrund jüdischer Theologie im Angesicht der Shoah eine besondere Bedeutung zumisst. Ihr Versuch, die vielschichtigen Textbefunde in eine kohärente Systematik zu bringen, zeigt das theologische Engagement M.s. Es ist allerdings noch einmal deutlich festzuhalten, dass mit ihrem intertextuellen Zugang kein historisches Interesse verfolgt wird. Es geht nicht um die Traditionen, die innerhalb eines biblischen Textes rezipiert werden, auch nicht um Redaktionen, durch die ein Gespräch mit anderen Texten eingeschrieben worden sein kann, und nicht um den Nachweis, dass die Schriften auktorial aufeinander Bezug nehmen. M. praktiziert vielmehr eine Form der Intertextualität, die Stefan Alkier, auf den sie sich auch beruft, »experimentell« nennt: Die Leserin wählt die Texte aus, die sie in intertextuelle Beziehung zueinander bringt. Ein solcher Ansatz verlangt eine hohe »enzyklopädische Kompetenz« (Alkier) der Leser. M. hat sich durch geschickte Nutzung exegetischer Forschungen zu den Megillot und biblisch-theologischer Literatur eine breite Kompetenz grundgelegt. Allerdings hätte man sich eine eingehendere Auseinandersetzung mit zeitgenössischen systematisch-theologischen Ansätzen und Denkbewegungen gewünscht, die manche Begrifflichkeiten hätten schärfen können und manche Brücken zwischen den biblischen Texten mit ihrer historisch fernen Welt und gegenwärtigem Theologietreiben hätten schlagen h elfen. Dass aber eine solche Frage überhaupt beim Lesen einer exegetischen Arbeit aufscheint, ist keine Selbstverständlichkeit und bereits ein Gewinn. M.s Monographie signalisiert die Notwendigkeit der »Intertextualität« zwischen Exegese und systema-tischer Theologie und ist selber ein lesenswerter Beitrag dazu.