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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

987–989

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wilk, Florian

Titel/Untertitel:

Identität und Sprache. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike. M. Beiträgen v. E. Bons, M. Karrer, L. Neubert, Th. Paulsen, M. Rheindorf, F. Wilk u. A. F. Wilke.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2018. 232 S. = Biblisch-Theologische Studien, 174. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-7887-3264-6.

Rezensent:

Michael Rydryck

Der von Florian Wilk herausgegebene Band beschließt eine Folge von Tagungen und Veröffentlichungen, die das Themenfeld Identität mit im weiteren Sinn theologischen Themenkomplexen verknüpft haben (vgl. exemplarisch den Vorgängerband Grohmann, Marianne [Hrsg.]: Identität und Schrift. Fortschreibungsprozesse als Mittel religiöser Identitätsbildung. BThSt 169, Göttingen 2017). Bei dem 2018 publizierten fünften und letzten Band »Identität und Sprache« handelt es sich indes nicht um den hieratischen Schlussstein einer Identitätsdebatte, sondern vielmehr um ein Mosaik, das als Fragment zum Weiterdenken und Weiterarbeiten anregt.
Der Band umfasst neben einer thematischen Einleitung sechs Beiträge, die sich mit Blick auf Umfang, Methodik und Forschungsfeld erkennbar voneinander unterscheiden. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie in unterschiedlichen Intensitätsgra-den Aspekte von Sprach(en)- und Identitätsdiskursen untersuchen. Während der erste Beitrag von Markus Rheindorf dies in einem ge­genwärtigen Horizont unternimmt, sind die folgenden fünf Beiträge auf antike Horizonte bezogen. In dieser thematischen und methodischen Diversität liegen sowohl die Stärke als auch die Problematik dieses Sammelbandes begründet.
Markus Rheindorf (»Diskursanalyse in der Linguistik: Der diskurshistorische Ansatz«, 17–62) eröffnet die Reihe der Beiträge mit einer diskursanalytischen, induktiven Untersuchung zu Identität und Erinnerungsgeschichte im gegenwärtigen Österreich. Der kulturhermeneutische Fokus liegt hier auf der Rekonstruktion kollektiver Identität. Sprache wird linguistisch verstanden. Die Methodik ist empirisch ausgerichtet. Der anschließende Beitrag von Thomas Paulsen (»Identitätswahrung durch Abgrenzung oder warum kaiserzeitliche Griechen kein Latein lernten«, 63–87) weitet den Fokus und umgreift den Zeitraum vom Hellenismus, über die römische Republik bis zur spätantiken Kaiserzeit. Paulsen thematisiert Aspekte kollektiver Identität mit Blick auf Sprachkompetenz und Sprachgebrauch im Sozial- und Bildungsgefüge der römischen und griechischen Eliten. Identität wird als Habitus bzw. habitu-elle Praxis verstanden, Sprache sprachgeschichtlich im Sinne der gesprochenen und geschriebenen – oder eben nicht gesprochenen und geschriebenen – (Fremd-)Sprache. Überlieferungsbedingt ist hier die zugrunde gelegte Quellenbasis einerseits breiter gestreut, andererseits weniger dicht als im Beitrag von Rheindorf. Der Fokus auf den Sprachgebrauch der Oberschichten ist indes nicht nur der Überlieferungslage geschuldet. Hier wären auch die Zusammenhänge von römischem Bürgerrecht und Lateinkompetenz sowie von Militärdienst und Sprachgebrauch von Interesse gewesen. Der thematische Fokus im Beitrag von Alexa F. Wilke (»›Ich aber!‹ Identität und Sprache im Gebet des Psalters«, 89–113) ist wieder enger gesetzt als bei Paulsen, indem sie den kanonischen Psalter als Referenzrahmen eines Identitätsdiskurses wählt und diesen Rahmen zugleich durch einen formgeschichtlichen und intertextuellen Vergleich mit altorientalischen Handerhebungsgebeten weitet. Sprache ist bei Wilke die konkrete, literarisch geformte Sprache der einbezogenen Gebetstexte. Entsprechend steht hier die Frage nach der lebensweltlichen Referenz dieser Texte im Raum. Die daran an­schließende Frage, ob die konstatierte Identifikation des betenden Ich mit einer sozialen Rolle den literarischen Bedingungen der spezifischen Textsorte oder einem in der lebensweltlichen Praxis verankerten Identitätskonzept geschuldet ist, bleibt offen. Der folgende Beitrag von Eberhard Bons (»Der Einfluss des Septuaginta-Psalters auf die jüdisch-hellenistische Gebetssprache – Beispiele aus der Septuaginta und der zwischentestamentlichen Literatur«, 115–138) geht methodisch vergleichbare Wege wie Wilke, ist jedoch im Ganzen stärker philologisch und motiv- bzw. traditionsgeschichtlich ausgerichtet. Zudem werden die konkreten Textanalysen nur lose mit der Identitätsthematik verknüpft (vgl. 134–135).
Der umfangreiche Beitrag von Martin Karrer (»Sprache und Identität – Beobachtungen an der Apokalypse«, 139–198) stellt ge­genüber den übrigen Beiträgen ein Mosaik innerhalb des Gesamtmosaiks dar. Ein weites Methodenspektrum wird hier mit einem ebenso weiten Fragespektrum verknüpft: Zu motiv- und traditionsgeschichtlichen Methoden treten sprachgeschichtliche, editionsphilologische und rezeptionsgeschichtliche Aspekte. Thetische Präludien (vgl. 139.148) leiten über zu akribischen und im Detail außerordentlich gewinnbringenden Analysen eines Identität konstruierenden Sprachgebrauchs in der Apokalypse. Karrer verknüpft mit dieser Frage nach kollektiver Identität zudem Fragen nach der Identität des Autors und nach der Identität, die durch den Autor intendiert werde (140).
Den Schlussstein des Bandes bildet der Beitrag von Luke Neubert (»Sprachvielfalt in der rabbinischen Welt. Ein Beitrag zur Identitätsbildung der Rabbinen«, 199–221). Hier stellt sich im Anschluss an die ergiebigen Detailanalysen zum einen die Frage nach dem zugrundeliegenden Begriff von Identität und zum anderen – vergleichbar dem Beitrag von Wilke – die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Textwelt(en) und Lebenswelt(en).
Das im vorliegenden Sammelband grundgelegte Mosaik zum Zusammenhang von Identität und Sprache bleibt in der Diversität der Sprachbegriffe und Identitätskonzepte, in der Vielfalt der Me­thoden und der Unterschiedlichkeit der Quellen notwendig Fragment. Hierin liegen, wie bei den vorangegangenen Bänden, die Her­ausforderung und die Inspiration für mögliche Rezipienten, regt doch das Mosaik zur Horizonterweiterung und zur Fokussierung, zur theoretischen Präzisierung und zur materialen Vervollständigung gleichermaßen an.