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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

985–987

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Parsons, Mikeal C., and Michael W. Martin

Titel/Untertitel:

Ancient Rhetoric and the New Testament. The Influence of Elementary Greek Composition.

Verlag:

Waco: Baylor University Press 2018. 362 S. Geb. US$ 39,95. ISBN 978-1-48130-980-6.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Das Buch ist die Frucht einer Kooperation zwischen Mikeal C. Parsons, der an der Baylor University fast 20 Jahre lang Doktoran-dense-minare über Rhetorik geleitet hat, und Michael W. Martin, der in einem dieser Seminare zur Rhetorik fand. Das Ziel der beiden Forscher ist: »to show the pervasiveness of the progymnastic forms as building blocks of ancient Mediterranean literature, the New Testament included, and to illustrate the usefulness of progymnas-tic theory for the interpretation of those forms« (275).
In einer Einleitung (1–15) wird zunächst beschrieben, welchen Platz die Progymnasmata im Rahmen der rhetorischen Ausbildung einnahmen: Sie stellten das Bindeglied zwischen dem Unterricht beim grammaticus und beim Rhetor dar und sind damit weder der zweiten noch der dritten Phase der Schulbildung exklusiv zuzuordnen. Solche Übungen wurden in Handbüchern verschriftlicht, von denen immerhin vier erhalten sind, nämlich die Handbücher von Theon (ca. 50–100 n. Chr.), Ps-Hermogenes (3./4. Jh. n. Chr.), Aphthonius (4. Jh. n. Chr.) und Nicolaus (5. Jh. n. Chr.).
Der Aufbau des Hauptteils (17–274) orientiert sich an der Abfolge der Progymnasmata im Handbuch Theons. Von den zehn Übungen bei Theon werden von P./M. sieben für eine detaillierte Be­handlung ausgewählt: Chreia, »fable« (zu Deutsch also Fabel, was allerdings ein Missverständnis nahelegt, vgl. u.), Erzählung, Ek­phrasis, Figurenrede, Enkomium und Synkrisis. Die Behandlung erfolgt in jedem Fall nach einem gleichbleibenden Schema: 1. Theorie, 2. Beispiele aus der antiken Literatur, 3. Beispiele aus dem Neuen Testament, ggf. 4. Abschluss.
Ich wähle als Beispiele für die von P./M. besprochenen Progymnasmata die zwei aus, die mir für das Neue Testament am relevantesten erscheinen: Chreia (17–44) und »fable« (45–70). Zur Theorie der Chreia zitieren P./M. Theon, der diese Form definiert als »a brief saying or action making a point, attributed to some specified person or something corresponding to a person« (Prog. 96, P./M., 18). Die Einleitung dieser Definition deutet schon an, dass man drei Arten von Chreiai unterscheiden kann, nämlich Wort-, Handlungs- und gemischte Chreiai, für die P./M. jeweils Beispiele anführen (in deren Mittelpunkt oft Diogenes steht). So weit ist das nicht neu. Weniger bekannt dürfte aber sein, wie die Chreia zur Übung verwendet wird. Nach Theon gibt es acht verschiedene Übungen, die anhand von Chreiai durchgeführt werden: »restatement, grammatical inflection, comment, and contradiction, and we expand and compress the chreia, and in addition (at a later stage in study) we refute and confirm« (Prog. 101, P./M., 21). Aus den Beispielen, die Theon für die Erweiterung und die Verkürzung einer Chreia an­führt, folgern P./M., dass die in der neutestamentlichen Exegese verbreitete Überzeugung von einem Ausbau von (ursprünglichen) Wort- zu (sekundären) Handlungschrien nicht gesichert ist: Ebenso wie eine solche Erweiterung sei auch die Verkürzung von Handlungs- zu Wortchrien möglich (21). Auch für das synoptische Problem ist diese Einsicht, P./M. zufolge, relevant. Die Mt-Parallele (19,13–15) zu Mk 10,13–16 (die Chreia mit »Lasst die Kinder zu mir kommen«) ist deutlich kürzer – das sei ebenso als Kürzung durch Mt wie als Erweiterung durch Mk zu erklären, stütze also nicht die Zwei-Quellen-Theorie (31).
Die Fabel (μύθος, αἶνος, fabella, fabula) wird von Theon definiert als »fictitious story/statement that gives an image of the truth« (Prog. 72, P./M., 46). Mit »image of the truth« ist gemeint, dass die Fabel zur Belehrung verwendet wird: »Its purpose is to illus-trate some moral, principle, idea, or piece of practical wisdom« (47). Eine Einteilung der Fabeln in realistische oder unrealistische bzw. in Tier- oder Menschenfabeln lehnt Theon ab – auch fiktive, mit einer Moral oder einer lebenspraktischen Lehre versehene Erzählungen, die nur mit menschlichen Figuren arbeiten, sind in seiner Sicht »Fabeln«. Die Arbeit der Schüler mit diesen Formen wird ausführlich beschrieben. Dazu gehören z. B. Paraphrase, Auswertung, Widerlegung, ferner eine Übung, bei der die Erzählung vom Singular in den Plural überführt und die Nomina in verschiedene Casus gesetzt werden müssen. P./M. bieten nicht nur einschlägige Texte aus paganer griechisch-römischer Literatur, sondern auch solche aus Altem Testament (2Sam 12,1–6) und rabbinischer Literatur (Dtn Rabbah 2,24). Aus dem Neuen Testament zitieren P./M. einige Gleichnisse Jesu (Mk 4,2–20; Mt 21,33–46; Lk 15,1–7; 10,25–37). Dass sie im Neuen Testament als παραβολαί bezeichnet werden, wird von P./M. damit erklärt, dass diese Gattungsbezeichnung schon bei Aristoteles eine Untergattung des μύθος sei (57 [69], Anm. 28). Eine Ableitung der παραβολή vom hebräischen Ma­schal lehnen P./M. ab (60 [69], Anm. 36). Nicht nur formal, son-dern auch funktional zeige die Parabel Gemeinsamkeiten mit dem μύθος: Sie enthalte wie dieser eine große Bandbreite von keineswegs nur ethischen Lehren, die teils explizit (an den Anfang oder ans Ende der Erzählung gestellt), teils implizit sind. Sogar die Übung der Umsetzung in verschiedene Numeri und Casus ist nach P./M. zu finden (besonders in der Behandlung der »Raben« in Lk 12,24 und im Gleichnis vom verlorenen Sohn [61] – m. E. schwer nachvollziehbare Deutungen). Zu den unterschiedlichen synop-tischen Fassungen desselben Gleichnisses bemerken P./M.: »Such changes reflect the fable-specific editorial practices learned in schools all around the Mediterranean.« (62) Aus dieser passgenauen Zuordnung schließen sie, dass Jesus kaum Gleichnisse in einer ganz anderen als der überlieferten Form erzählt haben könne; entsprechende Rekonstruktionen, in denen z. B. keine Einleitungen oder Anwendungen, allegorischen Bezüge oder religiösen Inhalte enthalten seien, sind für sie nicht überzeugend. Viel überzeugender sei eine andere Erklärung: »that Jesus – like other Jewish prophets and rabbis before and after him – preached in the form of the Graeco-Semitic fable and that the evangelists […] represent his preaching more or less in its original form« (62 f.).
Die Stärken wie auch die Gefahren des Buchs sind deutlich geworden. Die Handbücher zu den Progymnasmata werden hier nicht nur kundig und anhand von vielen antiken Beispieltexten erläutert, sondern auch in Beziehung zur urchristlichen Literatur gesetzt. Dafür verdienen P./M. unseren Dank, denn dieser Kontext der neutestamentlichen Schriften wird üblicherweise nicht ausreichend berücksichtigt. Die Gefahren sind aber ebenfalls deutlich erkennbar. Zum einen ist es fraglich, ob es Sinn hat, z. B. die Schilderung der Taufe Jesu (Mk 1,10; Lk 3,22) der Ekphrasis (127) und Ps 23 dem Enkomium (212) zuzuordnen. Hier wird die Variabilität der in den Progymnasmata gelehrten Gattungen doch sehr weit ausgedehnt. Zum anderen (und vor allem) sind P./M. erstaunlich zuversichtlich bezüglich der Nachweisbarkeit eines direkten Einflusses. Manchmal bieten sie zwar selbst eine Einschränkung (et-wa 94: »ascertaining intentionality or consciousness of use is some-times difficult«). Meistens legen sie aber die Annahme von Ab-hängigkeit zumindest nahe (z. B. 80.86.260.268) und scheinen vorauszusetzen, dass in der neutestamentlichen Überlieferung dieselben Regeln am Werk waren, die in den Progymnasmata artikuliert wurden. Der Untertitel des Buchs ist sicher kein Versehen: »The Influence of Elementary Greek Composition« (Hervorhebung von mir). Hier wäre m. E. größere Zurückhaltung angebracht, wie auch der Titel selbst irreführend ist, weil er übertriebene Erwartungen weckt.