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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

964–966

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Steinmetz, Uwe, u. Alexander Deeg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Blue Church. Improvisation als Klangfarbe des Evangelischen Gottesdienstes.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 312 S. = Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, 31. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-374-05441-1.

Rezensent:

Martin Scheidegger

Erneut ist in der Reihe »Beiträge zu Liturgie und Spiritualität« mit »Blue Church« ein äußerst lesenswerter Band erschienen. Thematisch ist er mit Band 29 zu »Jazz und Kirche« verbunden und so wie dieser ist auch der nun vorliegende Band Resultat einer Tagung, nämlich dem 21. Liturgiewissenschaftlichen Fachgespräch zum gleichnamigen Thema in Leipzig im März 2017. Der Sammelband vereinigt die damaligen Tagungsbeiträge, integriert darüber hinaus aber noch eine beträchtliche Anzahl zusätzlicher Beiträge. So ist aus diesem Sammelband mit seinen 312 Seiten ein richtiggehendes Referenzbuch geworden mit deutsch- und englischsprachigen Beiträgen, welche Einblick geben in die aktuelle Diskussion zu dieser Thematik. Aufgrund der zahlreichen Ergänzungen ist die Lektüre auch für damalige Tagungsteilnehmende lohnend.
Nach einer Einleitung der Herausgeber gliedert sich der Band in drei Teile mit Perspektiven aus der Theologie, praxisbezogenen Werkstattberichten und Perspektiven aus der Musik. Er schließt ab mit Rück- und Ausblicken von N. Breithaupt, A. Deeg und U. Steinmetz. Der theologische Teil umfasst Beiträge von A. Budde, W. J. Harmless, C. Harrison, G. Fermor, H.-M. Gutmann, J. Koll und J. R. Stahler. In den Werkstattberichten erzählen D. Stickan/U. Steinmetz, P. Bebelaar, U. Steinmetz/M. Villmow, D. Forshaw, I. Sturm und M. Krieg. Die Perspektiven aus der Musik kommen von D. Sti-ckan, M. Petzold, K. Elling, Ch. Rule und T. Gustavsen.
Die überaus reiche Fülle an Beiträgen macht es unmöglich, auf diese einzeln einzugehen. Um den Band auch den damaligen Teilnehmenden nahezulegen, stelle ich exemplarisch den an der Ta­gung nicht präsentierten, anregenden Beitrag des verstorbenen William J. Harmless SJ »A Love Supreme. Augustine’s ›Jazz‹ of Theology« vor.
H. beginnt mit Marrous Feststellung, dass eine Wertschätzung von Augustins Organisationsgewohnheiten musikologisches Denken bedinge und Augustinus eben wie ein fähiger Musiker vor-gehe. Marrou habe betont, dass antike Rhetorik Improvisation sehr schätzte, und H. zitiert ihn: »Improvisation in both literature and music is always greatly helped by a well-stocked memory – as any-one will soon find out if he wants to develop a ›hot‹ technique in playing jazz.« (51) Naheliegenderweise ist auch für die theologische Improvisation ein gut sortiertes Gedächtnis enorm hilfreich. H. schreibt weiter, dass es in seinem Beitrag darum gehe, Marrous treffenden Vergleich stärker zu konturieren. Bezeichnenderweise lädt H. die Leserin dazu ein, zu Beginn eines jeden der vier Teile jeweils einen Jazz-Standard zu hören.
Nachdem sich die Hörer Miles Davis’ Song »So What« aus dem Album »Kind of Blue« angehört haben, interessiert sich H. im ersten Teil nicht nur dafür, dass Augustin in seinen Predigten im­provisierte, sondern wichtiger ist ihm die Frage, wie Improvisa-tion seine Theologie formte. H. geht von einem Improvisationsverständnis aus, welches vor allem Spontaneität und das Ausbleiben eines Manuskripts beinhaltet. Augustin schrieb seine Predigten nie auf, und was überliefert ist, wurde durch Stenographen mitgeschrieben. Dies ist ein mögliches, aber keineswegs notwendiges Improvisationsverständnis. H. stellt Augustins Predigten treffend als »prepared improvisations« dar, d. h. sie seien vorbereitet durch sein Gebet, in dem er die Ideen bearbeitete und wälzte, und an­schließend bei deren Wording in der Predigt improvisiert. H. wendet sich immer wieder Augustinus’ Predigt über Ps 138 zu, welche er als ein Beispiel einer »purely improvised sermon« versteht, denn der Lektor hatte aus Versehen, oder gemäß Augustinus nach gött-lichem Willen, Ps 138 gelesen statt des eigentlich geplanten Psalms. Augustinus sieht dies als eine Fügung Gottes und auf diese will er hören. Nachfolger Christi müssen Hörer sein und dies führt zum Gebet.
»Prayer is not simply speaking to God; it is, above all, a matter of listening. For Augustine, theological improvisation sprang from a listening heart, lis-tening to the many and varied voices of Christ. So Augustine, before he begins his own soloing, takes his cues from the voices that preceded his own verbal entrance.« (57–58)
H. geht schließlich dieser Predigt nach, welche nach seiner Schätzung ungefähr achtzig Minuten gedauert haben dürfte. Augustinus gehe nicht nach modernen homiletischen Vorstellungen vor, sondern mäandriert von Thema zu Thema, wobei H. für die mo-derne Predigt die Karikatur der guten Geschichte mit drei an-schließenden Punkten bemüht. Augustins Predigt sei keines-wegs strukturlos, wie es auf den ersten Blick scheine, sondern sei durch den Psalm selbst strukturiert. »Remember what I noted about jazz musicians improvising on ›standards‹. Here the Psalm is the ›standard‹, the melody.« (59) Wie ein Musiker improvisiere Augustinus über diesen Psalm und gebe kleinsten Nuancen des Textes Gewicht. »Even while improvising, Augustine focuses in-tensely on minutiae, seeking to tease out the hidden melodies within the dense biblical chords.« (60) Die biblische Komposition liegt vor und die theologische Aufgabe bestehe darin, als Hörer und Performer, »to explore word by word those ›magnificent signs‹ whose sweet obscurity bring us delight in this Kind-of-Blue-like ›night‹ journey on earth« (60).
H. lädt im zweiten Teil zum Hören von Julian Cannonball Ad­derley’s »Mercy, Mercy, Mercy« ein und fragt nach der Bedeutung des »live« Aspekts in der musikalischen bzw. homiletischen Performanz. Die kommunikative Interaktion zwischen Augustinus und Gemeinde ähnele nicht so sehr der Aufführungspraxis in klassischer Musik oder Rockmusik, sondern derjenigen des Jazz. »Augus-tine was a verbal virtuoso, and his congregation used to cheer his skilled soloing, his extemporaneous verbal fireworks.« (61) Anhand verschiedener Predigtbeispiele zeigt er Augustins Können und das wechselseitige Reaktionsverhalten mit der Gemeinde auf. Im dritten Teil fordert er zum Hören von Wayne Shorter’s »Footprints« auf und zwar insbesondere auf die verschiedenen Versionen, die er im Laufe der Zeit kreierte. H. weist darauf hin, dass im Jazz als auch in Augustins Theologie Themen aus dem traditionellen Lagerbestand immer wieder neu bearbeitet wurden. H. weist auf solche Lager-bestandthemen hin und zeigt, wie Augustinus diese auch gerade in der Predigt zu Ps 138 neu bearbeitete. Im vierten Teil führt H. »A Love Supreme« von John Coltrane zusammen mit Augustins Absicht, durch seine »Jazz«-Theologie die Herzen der Hörerinnen und Hörer zu bewegen. »For Augustine, Christ is both the melody around whom the music of Scripture revolves and the final cadence on which it ends. Augustine’s own words are meant both to celebrate and to evoke that ›love supreme‹.« (80)
Nebst dieser Darstellung von Augustins »Jazz«-Theologie wartet der Band mit zahlreichen weiteren Anregungen auf, im Gottesdienst Improvisation einzuüben. Und Deeg hat wohl recht, wenn er abschließend schreibt: »Wahrscheinlich könnten sich un­sere Gottesdienste durch die intensive Einübung und konsequente Pflege einer solchen liturgischen Haltung weit mehr verändern als durch viele Agenden, revidierte liturgische Texte oder neues Liedgut für die Gemeinde.« (303)