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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

962–964

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Menzel, Kerstin

Titel/Untertitel:

Kleine Zahlen, weiter Raum. Pfarrberuf in ländlichen Gemeinden Ostdeutschlands.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 551 S. = Praktische Theologie heute, 155. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-17-035492-0.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Mit Recht ist Kerstin Menzel überzeugt, »dass der Blick auf die ostdeutsche Situation auch für westdeutsche Verhältnisse impulsgebend sein kann« (19). Ihre Marburger Dissertation, für die Ulrike Wagner-Rau das erste Gutachten erstellte und inhaltliche Anregungen gab, enthält viele Informationen und Überlegungen, die pastoraltheologisch und kybernetisch nicht nur im ländlichen Raum bedeutsam sind. M. verortet ihre Arbeit am Schnittpunkt von Kirchensoziologie und Pastoraltheologie bzw. Kirchentheorie. Sie bietet ein gutes Beispiel für Praktische Theologie als Wahrnehmungswissenschaft. Auf einen kurzen Überblick zum Forschungsstand folgt eine Darstellung der Rahmenbedingungen des Pfarrberufs in ländlichen Räumen Ostdeutschlands. Eine Skizze der historischen Entwicklung vom Anfang der DDR bis in die neunziger Jahre hilft, die gegenwärtige Situation zu verstehen. Unter Auswertung der vorhandenen soziologischen Forschungen, besonders der Mitgliederbefragungen der EKD, wird sodann die Existenz der ostdeutschen evangelischen Kirchen zwischen Minorisierung und Volkskirchlichkeit beschrieben, wobei die Unterschiede zwischen West und Ost im Blick sind. Dabei zeigt sich, dass die differenzierte Wahrnehmung bei allem Bemühen um Objektivität von Voraussetzungen beeinflusst wird. Das Ideal der »offenen Volkskirche« impliziert ein negatives Verständnis des Diasporabegriffs, dem unterstellt wird, er verstärke Abgrenzungs- und Rückzugstendenzen. Damit werden entsprechende Impulse ostdeutscher Theologen gründlich missverstanden.
Überzeugend gelingt M. dagegen die differenzierte Darstellung der Realität des ländlichen Raumes und der Bedeutung kirchlicher Präsenz gerade angesichts der gravierenden Veränderungen in der dörflichen Gesellschaft. »Kirche bleibt da. Auch wenn die Post, der Laden, die Ärztin das Dorf längst verlassen haben« (153). Allerdings bleibt die Kirche in vielen Dörfern nur als Gebäude, während der Pfarrer den Ort ebenso verlassen hat wie die Ärztin. Das Ehrenamt wird zum Schlüsselthema für den Pfarrberuf, im ländlichen Raum noch mehr als in der Stadt, aber die zur Mitarbeit bereiten Personen s ind auf dem Land schwerer zu gewinnen. Regionalisierung ge­schieht bereits weithin, wird aber oft als Rückzug empfunden. Nachdrücklich betont M. die Chancen und die Notwendigkeit, trotz der anhaltenden Minorisierung für das öffentliche Wohl zu wirken. Kooperation mit konfessionslosen Menschen ist möglich, wie u. a. die Kirchbauvereine zeigen.
Der spezifische Ertrag der Arbeit ergibt sich aus der qualitativ-rekonstruktiven Forschung in der Form von acht offenen, narrativ orientierten Interviews mit drei Pfarrerinnen und fünf Pfarrern verschiedenen Alters und Familienstandes, von denen nur einer nicht aus Ostdeutschland stammt. Natürlich vertreten sie unterschiedliche theologische Positionen, ein evangelikaler Theologe fehlt. Positiv überrascht die hohe Berufszufriedenheit bei sieben der acht Interviewten. Durchweg negativ beurteilen alle den Verwaltungsaufwand, der das Gefühl verstärkt, zu wenig zum Eigentlichen zu kommen. Als belastend wird erlebt, was dem eigenen Ideal widerspricht. Kränkend wirkt Desinteresse an dem pastoralen Angebot. Arbeitsdruck wird oft selbst erzeugt, und das Gefühl der Überlastung entspricht nicht immer dem tatsächlichen Arbeitsumfang. Überforderung ergibt sich aus unrealistischen Leitbildern wie dem der ständigen Verfügbarkeit. Bei diesen Problemen handelt es sich nicht um spezielle Schwierigkeiten im Landpfarramt, aber sie werden durch die Ausweitung der Verantwortungsbereiche verstärkt. Die befragten Pfarrerinnen und Pfarrer bewältigen die Probleme in unterschiedlicher Weise. Nur einer verweist auf die Möglichkeit digitaler Kommunikation. Da die Interviews be­reits 2011 stattfanden, hat die Bedeutung des Internets inzwischen vermutlich zugenommen. Das Internet kann aber auch künftig die Präsenz von Personen nicht ersetzen.
Weitgehend besteht Einigkeit in der Einsicht, dass die veränderte Situation neue Wege erfordert, wofür ein gewisser Gestaltungsspielraum notwendig ist. Zukunftsweisende Beispiele bieten eine Pfarrerin und ein Pfarrer, in deren Gemeinden selbständige Ortsausschüsse oder Kirchenvorstände an den verschiedenen Or­ten das Gemeindeleben organisieren. Die Präsenz am Ort hängt damit nicht an der Amtsperson, die je nach Bedarf zur Verfügung steht und dafür sorgt, dass Lokales und Regionales einander ergänzen. Dabei geht die Pfarrerin mehr von der Region als Gesamtgemeinde aus, während ihr Kollege von autarken kleinen Gemeinden her die Zusammenarbeit sucht. Beide Konzepte sind durch die Relativierung der pastoralen Führungsrolle und eine partnerschaftliche Beziehung zu den Ehrenamtlichen geprägt. Die Beispiele deuten an, wie drei von M. als zentral bezeichnete Schlüsselfragen beantwortet werden können: Wie ist Gestaltungsspielraum zu gewinnen? Wodurch gewinnen Pfarrerinnen und Pfarrer Anerkennung und Erfolg und wie können sie ihre Arbeit sinnvoll be­grenzen?
Diese Fragen setzen differenzierte Wahrnehmung voraus, die das interessante Buch reichlich enthält, gehen aber darüber hinaus. Wiederholt weist M. auf die Notwendigkeit theologischer Reflexion der Situation hin. Die biblischen Grundlagen der Gemeindepraxis spielen aber kaum eine Rolle. Die Interviewten erwähnen biblische Motive wie das Bild vom Leib Röm 12 oder das Priestertum aller Gläubigen, doch in der Auswertung werden diese Aspekte nicht vertieft. M. ist zuzustimmen, wenn sie vor der Orientierung an den Defiziten warnt. Die positiven Ressourcen, die den oft deprimierenden Mängeln entgegenzusetzen sind, erschließen sich nur einer in der Heiligen Schrift verwurzelten praxis pietatis. Angesichts des weltweiten Wachstums der Pfingstkirchen verwundert, dass den Charismen keine Bedeutung zukommt. Klärungsbedürftig ist die Rede vom allgemeinen Priestertum, die mehr meint als »die individuelle Unmittelbarkeit zu Gott sowie die persönliche und familiäre religiöse Praxis« (488, Anm. 17). Diese Begrenzung überwand schon Spener mit biblischer Begründung. Es geht um Verantwortung füreinander in der Beziehung zu Gott. Dazu ge­hört die Bereitschaft, in der Gemeinde und für sie Verantwortung zu übernehmen.
Solche Bereitschaft zu wecken und zu stärken, ist vordringliche Aufgabe des Pfarrberufs nicht nur, aber besonders, in ländlichen Gemeinden Ostdeutschlands. Dafür bietet dieses Buch viele nützliche Informationen und Anregungen.