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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

960–962

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Marks, Matthias

Titel/Untertitel:

Religionspsychologie.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 192 S. = Kompendien Praktische Theologie, 1. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-17-034062-6.

Rezensent:

Michael Utsch

Die neue Reihe »Kompendium Praktische Theologie« möchte kompakte und anschauliche Überblicke über die Teilgebiete der Praktischen Theologie bieten. Die auf zehn Bände angelegte Reihe ist mit dem Band Religionspsychologie eines westfälischen Pfarrers an den Start gegangen, weitere sollen in diesem Jahr folgen. Für die Religionspsychologie ist es erfreulich und längst überfällig, endlich mal wieder eine differenzierte Monographie zu einem Thema in Händen zu haben, das in Deutschland immer noch ein Schattendasein fristet. Dennoch taucht sofort die Skepsis auf, ob hier wieder einmal die christliche Theologie das Phänomen menschlicher Transzendenzbezogenheit – moderner ausgedrückt die spiri tuelle Dimen-sion des Menschen – auf Religion reduziert und christlich-theo-logisch vereinnahmt. Nicht umsonst hat die richtungsweisende Sektion 36 der American Psychological Association (APA) ihren Ar­beitsbereich seit 2012 durch eine Namensänderung erweitert auf die »psychology of religion and spirituality«. In der sozialwissenschaftlichen Forschung hat das Konzept Spiritualität längst den Begriff der Religion überholt, und auch im deutschsprachigen Bereich wird mittlerweile selbstkritisch »Die Religion der Reli-gionspsychologie« hinterfragt (Christoph Morgenthaler, ZThK 113 [2016], 99–121). Religionen bzw. Spiritualität sind aus psycholo-gischer Sicht unstrittig zentrale Dimensionen des Kulturwesens Mensch, wie unterschiedlich sie inhaltlich auch ausgestaltet sein mögen. Psychologen reagieren allergisch, wenn anthropologische Merkmale reduktionistisch vereinnahmt werden. Vor diesem Hintergrund ist es spannend zu untersuchen, ob und wie Matthias Marks die Religionspsychologie als ein Teilgebiet der Prak-tischen Theologie darstellt.
In der Einleitung wird treffend dargestellt, dass in der Psychologie aufgrund ihrer empirischen Prämissen darauf bestanden wird, Religion als ein menschliches Phänomen zu betrachten. Um die wissenschaftstheoretischen Grenzen einzuhalten, sei die Religionspsychologie offiziell kein Teilgebiet der Praktischen Theologie. Anders verortet M. die Religionspädagogik und die Seelsorge, die unverzichtbare Bestandteile der Praktischen Theologie bilden würden. Es bleibe »abzuwarten, ob und wann sich der Zweig einer ›Spiritualitätspsychologie‹« herausbilden werde, der dann für die Praktische Theologie bedeutsam wäre (12). Wenn man den gegenwärtigen Spiritualitätstrend unter Berücksichtigung neuester Er­kenntnisse in der Hirn- und Gesundheitsforschung weiterdenken würde, spreche manches dafür. Nachdem in der Einleitung skizzenhaft acht maßgebliche Theoriestränge der Psychologie skizziert werden (Evolution, Verhalten, Lernen, Persönlichkeit, Gruppe etc.), präsentiert M. in einem eigenen Abschnitt seine eigenen Prämissen. Als eine »fachfremde Disziplin« will er die Religionspsycho-logie für die Praktische Theologie fruchtbar machen. Weil Religio-sität einen hohen Stellenwert für die Identitätsbildung habe und auch sehr private Lebensbereiche einschließe, plädiert er dafür, die eigenen anthropologischen und religionstheoretischen Prämissen offenzulegen. Hier ordnet sich M. der psychoanalytisch orientierten Religionspsychologie zu, in der dem Phänomen des dynamisch Unbewussten ein breiter Raum eingeräumt werde.
Um der vorgegebenen Struktur des Kompendiums zu entsprechen, folgen nach der Einleitung Kapitel über die Geschichte der Disziplin, das religiöse Subjekt als ihr Gegenstand, ein eigenes, aber viel zu kurzes, nur zweiseitiges (!) Kapitel mit »Bemerkungen zur Empirie« sowie ein abschließendes über die Bedeutung psychoanalytischer Religionspsychologie für die Praktische Theologie. Das historische Kapitel gibt knapp und präzise besonders über die ersten Jahrzehnte dieser Disziplin Auskunft, auch wenn manche Details ergänzungsbedürftig sind. Zwar trifft es zu, dass sich die Religionspsychologie seit ihren Anfängen bis vor dem Krieg »im protestantischen Ambiente« entwickelt hat. Aber in der Nachkriegszeit waren es vor allem amerikanische Forscherinnen und Forscher, die Gelder für umfangreiche Studien und Ausbildungsgänge akquirierten – häufig auch katholische. Die Vorläuferor-ganisation der richtungsweisenden Sektion 36 der APA namens »American Catholic Psychological Association« wurde von dem Je­suiten William C. Bier 1946 mit dem Ziel gegründet, Katholiken mit der Psychologie vertraut zu machen und eine Psychologie aus katholischer Weltsicht zu entwickeln. Im geschichtlichen Teil und auch später wird deutlich, dass zwar die historischen Zusammenhänge gut dargestellt und auf die Praktische Theologie bezogen werden, jedoch die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts kaum Berücksichtigung finden. Im Gegensatz zu Deutschland ist die Religionspsychologie in anderen Ländern – nicht nur den USA, sondern auch in Europa – besser institutionell verankert und etabliert. Das zweibändige APA-Handbuch (Washington 2013), das den ge­genwärtigen Wissensstand in 75 Übersichtsartikeln systematisch präsentiert, und auch neuere Handbücher werden im Buch leider nicht erwähnt.
»In der Religionspsychologie steht das religiöse Subjekt im Mittelpunkt« (48). Wirklich? Aus einer protestantischen Perspektive mag das unmittelbar einleuchten, und die ausführliche anthro-pologische Begründung der Bezogenheit als Grundverhältnis des Menschen kann diese Perspektive untermauern. Es fehlt aber eine Begründung dafür, warum nicht etwa die religiöse Gemeinschaft (Sozialpsychologie), religiöse Gefühle (Bewusstseinspsychologie) oder religiöse Werte (Motivationspsychologie) im Zentrum stehen. Möglicherweise steht das religiöse Subjekt deshalb im Mittelpunkt, weil diese Schwerpunktsetzung M. eine ideale Ausgangsbasis liefert, um sein bevorzugtes psychoanalytisches Menschenbild in den Fokus der Religionspsychologie zu rücken. Aus säkular-psychologischer Sicht muss hier jedoch eingewendet werden, dass diese Schwerpunktsetzung aktuelle Forschungsschwerpunkte wie die kultur- und religionssensible Psychotherapie (vgl. N. Mönter, M. Utsch, A. Heinz: Religionssensible Psychotherapie, Kohlhammer 2019), die Meditationsforschung (P. Sedlmaier: Die Kraft der Meditation, Rowohlt 2016) oder »Spiritualität und Gesundheit« (H. Koenig: Spiritualität in den Gesundheitsberufen, Stuttgart 2012) übergeht. Zu letzterem Themenkomplex liegen mittlerweile zahlreiche Monographien vor. Im letzten Jahr wurde sogar eine Metastudie v eröffentlicht, in der die wenigen deutschsprachigen Untersuchungen zu diesem Thema ausgewertet wurden (Zwingmann, C. & Hodapp, B.: Religiosität/Spiritualität und psychische Gesundheit: Zentrale Ergebnisse einer Metaanalyse über Studien aus dem deutschsprachigen Raum, Spiritual Care 7 [2018], 69–80). Die Ge­sundheitspsychologie, die Palliativmedizin, die weiten Felder von Spiritual Care, Meditation, Achtsamkeit und Positiver Psychotherapie sind allesamt aktuelle Forschungsgebiete der Religionspsychologie, die in diesem Band nur am Rande oder gar nicht erwähnt werden. Ebenso wichtig und in jüngster Zeit im Zentrum religionspsychologischen Forschungsinteresses sind die gesellschaftlich drängenden Fragen nach interreligiöser und interkultureller Verständigung, die im vorliegenden Band keine Rolle spielen.
M. reflektiert im letzten Kapitel gründlich die Zusammen-hänge zwischen Religions- und Pastoralpsychologie und kommt zu dem einleuchtenden Fazit, dass die Religionspsychologie »besser nicht als ein eigenständiger Teilbereich der Praktischen Theologie« zu etablieren sei (139). Er möchte sie als »Sehschule« verstanden wissen, mit deren Hilfe die Entwicklung des religiösen Subjekts in seiner Umwelt besser verstanden und gedeutet werden kann. Dann fragt sich der Leser allerdings irritiert, warum mit diesem Band die Reihe »Praktische Theologie« eröffnet wird. Es folgen exempla-rische praktische Anwendungen der Religionspsychologie auf Li­turgik, Poimenik, Homiletik, Kasualtheorie und Pastoraltheologie. Sehr originell kommen auch moderne Themen wie Tattoos, Ge­betsheilung und Kritik an der Selbstoptimierung zur Sprache.
Bei allen anregenden und praxisrelevanten Einsichten bildet diese Einführung die Breite psychologischer Zugänge zur menschlichen Transzendenzbezogenheit nicht ab. Es fehlt etwa die kognitive (J. Kuhl: Spirituelle Intelligenz, Freiburg i. Br. 2005), motivationale (T. Schnell: Psychologie des Lebenssinns, Berlin 2016) oder die systemische (U. Baatz: Spiritualität, Religion, Weltanschauung, Göttingen 2017) Perspektive. Auch das klinisch relevante Konzept der spirituellen Krise, über das ein umfangreiches deutschsprachiges Handbuch erstellt wurde, kommt nicht vor (L. Hofmann, P. Heise: Spiritualität und spirituelle Krisen, Stuttgart 2017). Die Religionspsychologie ist längst über das psychoanalytische Paradigma – so sinnvoll und nützlich dies nach wie vor ist! – herausgewachsen und kann sich mittlerweile auf breite empirische Daten sozialwissenschaftlicher Forschung stützen. M. begründet seine selektive Religionspsychologie anthropologisch, ohne den reichhaltigen em­pirischen Fundus zu nutzen, der mittlerweile zur Verfügung steht. Die eindeutigen Fakten haben einen renommierten Gesundheitsforscher dazu gebracht, ein Buch über den Bewältigungsfaktor positiver Spiritualität zu schreiben – obwohl er selber nicht an Gott glaubt (B. Cyrulnik: Glauben. Psychologie und Hirnforschung entschlüsseln, wie Spiritualität uns stärkt, Weinheim 2018). Leider ist das an den meisten psychologischen Fakultäten in Deutschland noch nicht angekommen. Bei allem wohlwollenden Engagement M.s für pastoralpsychologische Anwendungen tragen leider theologische Interpretationen der Religionspsychologie nicht zur Konsolidierung dieser psychologischen Teildisziplin bei, die wichtige Verständigungshilfen für ein besseres Zusammenhalten unserer multikulturellen Weltgesellschaft liefert.