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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

958–960

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kubik, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Predigen im Angesicht der Moderne. Emanuel Hirschs »Predigerfibel« im Lichte klassischer und neuerer homiletischer Fragestellungen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. VIII, 168 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 26. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-155984-6.

Rezensent:

Katharina Krause

Warum Klassiker lesen? Emanuel Hirsch zufolge bewahrt solche Lektüre vor Schablonisierung des eigenen Denkens und Redens. Auch wer regelmäßig auf die Kanzel steigt, so der Autor der Predigerfibel, bedürfe »seinerseits solcher, die stellvertretend ihn […] in seinem eigenen inneren Leben vertiefen durch das, was sie, von ihrem eigenen Ringen und Empfangen bewegt, in Zeugnissen und Rechenschaften für andre niedergelegt haben.« Spätestens mit der 2013 von Andreas Kubik neu herausgegebenen Ausgabe wird die Predigerfibel in den Rang eines solchen Klassikers erhoben. Der vorliegende Sammelband tut ein Übriges, geht er doch aus einer Tagung im März 2015 hervor, die an der Universität Osnabrück aus Anlass jener Edition unter dem Titel »Religiöse Rede im Angesicht der Moderne. 50 Jahre ›Predigerfibel‹ von Emanuel Hirsch« veranstaltet wurde.
Dass die Auseinandersetzung mit der homiletischen Konzeption Hirschs, der sicherlich zu den umstrittensten Gestalten der Theologiegeschichte zählt, immer noch gewinnbringend ist, be­antwortet der Herausgeber mit dem Hinweis auf dessen Modernitätsfähigkeit. Keiner seiner Zeitgenossen frage so konsequent, wie in einer Situation zu predigen möglich sei, da christliche Inhalte und Ansprüche an Selbstverständlichkeit verlören. Auch heute stehe die Kanzelrede unverändert vor einer Übersetzungsleistung – »Dolmetschung« in den Worten Hirschs, die er einzig in der exis-tentiell-religiösen Aneignung des in den Texten Sprache gewordenen Gottesverhältnisses bewerkstelligt sieht. Der garstige Graben, der sich seit der Ausbildung des historischen Bewusstseins immer weiter vertieft habe, lässt sich, folgt man Hirsch, ausschließlich auf dem Umweg über das predigende Subjekt überwinden, das in der Begegnung mit den biblischen Texten einen Standpunkt erringt, den es den Hörern wiederum stets aufs Neue zu plausibilisieren und zur persönlichen Aneignung verfügbar zu machen gilt.
Es ist das Verdienst Wilhelm Gräbs, in dem Beitrag »Predigt als religiöse Rede« dieses Programm skizziert und dabei aufgezeigt zu haben, welche theologiegeschichtlichen Linien damit zu einem vorläufigen Höhepunkt gelangen. Eine Einordnung der Prediger-fibel vor dem Hintergrund von Hirschs Theorie der religiösen Sprache nehmen Christian Danz und Andreas Kubik vor. Beiden Beiträgen, betitelt mit »Hirschs Theorie der religiösen Sprache zwischen Cassirer und Tillich. Zu den Paragraphen 50–52 der ›Christlichen Rechenschaft‹« sowie »Die Theorie religiöser Kommunikation als indirekter Mitteilung bei Emanuel Hirsch. Ein Beitrag zur prinzipiellen Homiletik«, geht es letztlich um die sprachliche Gestalt, die das den Texten Abgerungene in der Predigt anzunehmen habe. Die Frage nach den Kriterien Hirschs, anhand derer sich sachgemäße von unsachgemäßer religiöser Rede unterscheiden lässt, berührt auch Ruth Conrad in ihrem Beitrag »Der Christusbezug der Predigt als Indikator ihrer Modernitätsfähigkeit? Überlegungen im An­schluss an das Verhältnis von Exegese, Dogmatik und Homiletik bei Emanuel Hirsch«.
Das eigentliche Gewicht indes liegt in der Reflexion jener Schnittstelle, an welcher die im Titel genannten drei Denkbewegungen zusammenfinden. Dabei eröffnet sich dem Leser der Blick auf die christusmystische Seite jenes Frommen in liberalem Gewande, als der der Autor der Predigerfibel auch in Erscheinung tritt. In unmittelbarem Zusammenhang dazu kann Martin Zerraths Beitrag »Heute vom Ewigkeitsglauben predigen« gelesen werden. Fragt Conrad, ob der Ernstfall der Predigt in deren Christusbezug zu suchen ist, sieht Zerrath diesen mit der Osterpredigt als gegeben. Die drei verbleibenden Aufsätze bringen Hirsch mit weiteren Klassikern der Predigtlehre ins Gespräch. Mit wünschenswerter Klarheit stellt Lars Charbonnier in »›Die eigentliche Predigt hält sich der Hörer selbst‹ – Begann die rezeptionsästhetische Wende in der Homiletik bei Hirsch?« die unterschiedlichen Denkvoraussetzungen scheinbar geteilter Anliegen heraus. Michael Meyer-Blanck wiederum konfrontiert in »Das eigene Herz – ›Stellvertreter des gegenwärtigen Menschentums‹. Die Theorie der persönlichen Predigt bei Emanuel Hirsch« Hirschs Subjektivitätstheorie mit jener Otto Haendlers. Jan Hermelink schließlich fragt in »Predigen als Arbeit an der ›Situation‹. Homiletische Korrespondenzen zwischen Emanuel Hirsch und Ernst Lange« nach der jeweiligen Konzeption der Hörer im Predigtgeschehen.
Der Sammelband macht Lust, jenen Klassiker, um dessen Verständnis er sich bemüht, im Original zu lesen. Die interessierten Leserinnen und Leser werden dabei auf weitere Themen stoßen, die den homiletischen Diskurs derzeit bestimmen. Hirschs Überlegungen zur »Erlebnisübertragung« etwa vermögen das Nachdenken über das transformative Potential der Predigt zu befruchten. Und tatsächlich gibt die Predigerfibel, wie Kubik in der Einleitung notiert, reichlich Anlass, sich über die Wechselbeziehungen zwischen prinzipieller, materialer und formaler Homiletik Klarheit zu verschaffen. Anstoß dazu mag nicht zuletzt Hirschs Religionsevolutionismus geben, der Glaubensweisen, die sich einer Eintragung der Dynamik von »Gesetz« und »Evangelium« versperren, als »Krücken des Religiösen und Christlichen« bewerten muss. Diese Position hat Implikationen für das Was, Wozu und Wie der Predigt, die zu reflektieren dringend geboten ist; zumal in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Einführung der neuen Perikopenordnung, deren Anteil alttestamentlicher Texte beträchtlich gestiegen ist. Obgleich diese Problematik, wie dem Vorwort zu entnehmen, auf der Tagung verhandelt wurde, wird sie doch in dem Band nirgendwo diskutiert. Dies ist umso bedauerlicher, als sich ja mit Hirsch gegen Hirsch argumentieren lässt, dass sich eine Auseinandersetzung mit Klassikern nicht allein dann lohne, wenn die Leser darin etwas finden, was ihren Ansichten entspricht. »Auch Abwehr«, so fährt Hirsch den eingangs zitierten Gedanken fort, »kann eine Hilfe sein.«
Dessen ungeachtet eröffnet der Band eine Breite an Reflexionsperspektiven, die es nahelegen, die Predigerfibel auch für die Lehre wiederzugewinnen. Eine studentische Leserschaft hält mit diesem Buch eine materialreiche Einführung in Händen, die die kurso-rische Lektüre erleichtert und deren Sprache gut zugänglich ist. Auch das Sach- und Personenregister, das vergleichsweise breit ausfällt, mag sich als eine hilfreiche thematische Fundgrube erweisen.