Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2019

Spalte:

955–958

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Frör, Peter, u. Wilhelm Frör

Titel/Untertitel:

Praxisort Intensivstation. Seelsorge und moderne Bewusstseinsforschung im Dialog.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 288 S. m. 1 Tab. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-17-034972-8.

Rezensent:

Wolfgang Drechsel

Seelsorge auf der Intensivstation? Sich Menschen zuwenden, die im Koma liegen, sprachlos, bewusstlos? Wer sich auf solche Begegnungen einlässt, der muss nicht nur mit der normalen Abwehr von außen rechnen: »Da brauchen Sie gar nicht hinzugehen. Die Patienten kriegen sowieso nichts mit, da herrscht tiefe Bewusstlosigkeit.« Er muss auch die eigene widerständige Empfindung überwinden, sich einlassen auf eine Form von Leben mitten in der Sprachlosigkeit, in der das Gegenüber auf die »reine Form der Körperlichkeit« reduziert zu sein scheint; sich hineinbegeben in eine Situation außerhalb der sicheren Regeln unserer »Normalität«, auf das Abenteuer eigenen Ausgesetztseins. Denn erst so kann Seelsorge zu einer existenziellen Begegnung werden, zu einem gemeinsamen Ringen um Leben und Lebenswillen – was dann nicht selten, wenn die Patienten aus dem Koma wieder zurückkommen, auch Formen des sprachlichen Ausdrucks finden kann.
Seelsorge auf der Intensivstation? Wer sich darauf einlässt, hat bereits die Entscheidung getroffen, dass es sinnvoll ist, sich auf Unmittelbarkeit und menschliche Zuwendung auf der Grenze einzulassen, wenn auch nicht selten etwas argwöhnisch beäugt vom Personal.
Warum aber ist es sinnvoll, ja wichtig und möglicherweise le­bensnotwendig? Wie lässt sich verstehen, in Sprache fassen, was da geschieht – in, mit und unter aller Sprachlosigkeit? Und das nicht nur auf der Ebene des Verstehens möglicher Praxis, sondern in der logischen Konsequenz: Auf welchen theoretischen Grundlagen basiert eine solche Praxis? Und: Wer A sagt, muss auch B sagen: Dieses Bemühen um die wissenschaftlichen, theoretischen Hintergründe zieht eine Fülle an Fragen nach sich, die dann immer auch beantwortet werden müssen. Exemplarisch: Wer im Bereich der Be­wusstlosigkeit forscht, muss klären, was denn eigentlich Be­wusstsein ist.
Damit sind einige zentrale Themen und Anfragen beschrieben, denen sich das Projekt der Brüder Peter und Wilhelm Frör »Pra-xisort Intensivstation. Seelsorge und moderne Bewusstseinsforschung im Dialog« stellt. Es baut auf einem langjährigen Projekt »Traumland Intensivstation« des Pfarrers und Klinikseelsorgers Peter Frör am Großklinikum Großhadern in München im Kontext von Forschungs-, Seminar- und Kursarbeit zu Verständnis und Vertiefung konkreter seelsorglicher Praxis auf. Dessen Ergebnisse fließen nun in ein reflexives Gesamtkonzept ein, das diese Praxis in den Kontext der neueren Bewusstseinsforschung integriert. Für den interdisziplinären Charakter eines solchen Gesamtkonzepts, das bei aller Komplexität der Praxisorientierung in poimenischer und theologischer Perspektive den naturwissenschaftlichen Blick und insbesondere die Fragen der neueren Bewusstseinsforschung einbezieht, steht Wilhelm Frör, mit seinem Hintergrund als Arzt für Neurochirurgie, als kritischer und konstruktiver Gesprächspartner. So ist dieses Buch bereits in seinem Ansatz und durch die Autoren auf ein Verstehensmodell hin angelegt, das aus Multiperspektivität von Natur- und Geisteswissenschaft lebt und zugleich in der Dialektik von Theorie und Praxis zuhause ist. Bereits dieses Grundkonzept macht das Buch vielschichtig, ausgesprochen reizvoll und lesenswert.
Programmatisch beginnt das Buch mit vier Grundperspektiven der konkreten Seelsorgepraxis, in der die Aufmerksamkeit des Seelsorgers, der Seelsorgerin – mitten in aller »gefühlten Einwegkommunikation« – sich fokussieren kann: zum einen in der Frage nach der Körperlichkeit als gemeinsamer Basis der Begegnung. Zum an­deren in der Frage nach dem Patienten als Person, als eigenständigem Subjekt mit einem eigenen Lebenswillen, das – so die (später dann ausführlich ausgeführte) Hypothese – eine andere »archaische Wirklichkeit« erlebt als wir. Zum Dritten das Thema des sozialen Netzes des Patienten und seiner Beziehungen und zum Vierten die Dimension, die die Autoren – mangels eines anderen Wortes Spirit nennen: Die Dimension, die dem Patienten auf einer essentiellen Ebene Halt und Orientierung bietet. Im Zusammenspiel dieser verschiedenen Grundperspektiven wird dann deutlich, wie in der Begegnung auf der Intensivstation, die auf den ersten Blick als kommunikationslos und einseitig erscheint, eine hochkom-plexe Beziehungs- und Kommunikationsdynamik sich entfalten kann. In dieser Dynamik schwingt allerdings immer auch die ausgesprochen schwierige Aufgabe für den Seelsorger mit, die eigene Machtsituation vom Subjektsein des Patienten her selbstreflexiv in Frage stellen zu lassen. So kann sich erweisen, dass der Begriff »In­tensiv«-Station – sowohl für die Begegnung als auch für den Seelsorger, die Seelsorgerin selbst – eine existentielle Bedeutung haben kann, im Modus einer »Begegnung mit intensivem Leben«.
Nun bleibt dieses Buch nicht auf dieser Ebene der Reflexion möglicher Praxis stehen, sondern hebt – am Anfang in Form von Exkursen und Vertiefungen einzelner Themen, später dann in komplexen Diskussionen theoretischer Einzelthemen – die be­nannten Grundfragen auf die Ebene der expliziten Theorie: Neben differenzierten Projektbeschreibungen (»Traumland« als Seelsorge auf Intensiv, aber auch eines Projektes der Ärztefortbildung zum »Bewusstsein Bewusstloser«) seien hier nur exemplarisch benannt: die Frage nach den theoretischen Grundlagen der Bedeutung des Familiensystems, Entfaltung der Basics von Seelsorgetheorie wie auch die Frage nach der Kraft der archaischen Dimension der Ko­matherapie. Diese Entfaltung mündet dann in die beiden Schlusskapitel, die der neueren Bewusstseinsforschung gewidmet sind. Darin geht es um die Frage nach dem dissoziativen Bewusstsein als umfassendem Verstehensansatz und um die Entfaltung grundlegender Modelle von Kognition, Bewusstsein und »Geist«. Gerade darin, dass im Kontext dieser theoretischen Vertiefungen immer wieder auch eine gewisse Unübersichtlichkeit auftritt, artikuliert sich die Komplexität einer Aufgabe, nicht nur auf der Ebene der Praxisbeschreibung stehenzubleiben, sondern die jeweils herausgearbeiteten Themen (als Gegenwartsfragen vor ihrem historischen Hintergrund) eingehend zu behandeln.
Blicken wir auf den Gesamtaufbau des Buches, so zeigt sich in­teressanterweise, wie sich in diesem selbst einige grundlegende Themen der »Seelsorge auf Intensiv« spiegeln: So ist z. B. 1. das ge­samte Buch als Dialog angelegt. Die einzelnen Abschnitte, die durch die Kürzel der Namen PF und WF gekennzeichnet sind, gehen kritisch und konstruktiv aufeinander ein und bauen aufeinander auf. Hier wird auf exemplarische Weise sichtbar, was auch in jeder – nicht selten als einseitig erlebten – Situation am Intensivbett geschieht: eine intensive Form der Kommunikation. 2. Zu­gleich ist der Aufbau des Buches prozessorientiert: Aus der Reflexion der Praxisthemen werden immer wieder neu eigene Themen entwickelt, die dann in ihrer Eigendynamik wiederum neue, vertiefte Ergebnisse zeitigen. Dies lässt sich dann aber auch als Reflex auf das Thema der Prozessorientierung lesen, das sich inhaltlich durch das gesamte Buch zieht und in der Begegnung auf Intensiv als unabdingbar erscheint. 3. Das Bemühen, die Kommunikation im Sprachlosen in Sprache zu fassen, zeigt immer auch die Schwierigkeiten und Probleme, die auf dieser Ebene entstehen: Sei es die – schon angesprochene – Verwirrung im Kontext einer gewissen Unübersichtlichkeit, sei es in verschiedentlichen Wiederholungen, als jeweils neuer und in Nuance neu perspektivierter Anlauf an die sprachliche Fassung des Sprachlosen. Hier spiegelt sich auf exemplarische Weise im Leseerlebnis etwas von dem, was Seelsorgenden am Bett des sprachlosen Patienten widerfährt. Insofern erscheint mir gerade auch dieser Aspekt des vorliegenden Buches, so er denn wahrgenommen wird, als Konsequenz des sprachlichen Umgangs mit dem Sprachlosen, als ausgesprochen anregend: Es ist nicht notwendig, allen angeführten Theorien bedingungslos zuzustimmen, sondern es macht den Reiz dieses Buches aus, sowohl für Leser auf der Ebene der (Bewusstseins-)Theorie wie auch auf der Ebene konkreter Seelsorgepraxis, sich angeregt durch die Lektüre (auch in se­lektiver Auswahl) neu einzulassen auf einen Prozess des Selber-Denkens.
In dieser Hinsicht noch eine Anmerkung aus poimenischer Perspektive: Einmal ganz abgesehen davon, dass mit diesem Band ein wesentlicher Beitrag zur Hintergrundtheoriebildung der Poimenik geleistet wird und eine Fülle der benannten Themen in anderen Bereichen der Poimenik (z. B. Seelsorge im Pflegeheim) von eminenter Bedeutung sein können und konkrete Praxis mit neuer Perspektive erschließen, so lässt sich dieser Band auch als ein Plädoyer für ein in der Seelsorgetheorie gänzlich vernachlässigtes Thema lesen: als Betonung der Qualität der Gehstruktur in der Seelsorge, in der das »Christliche« der Seelsorge auf besondere Weise zum Ausdruck kommt: als bedingungsloses Zugehen auf Menschen mit dem Angebot einer (existentiellen) Begegnung, als Wahrnehmen und Wertnehmen des Gegenübers als Person und Subjekt – in der Perspektive, dass dieser Mensch aus Gottes Zu­wendung lebt, sei er nun bei vollem Bewusstsein oder liege »be­wusst­los« auf einer Intensivstation .