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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

952–954

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wendte, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jesus der Heiler und die Gesundheitsgesellschaft. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 228 S. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-374-05364-3.

Rezensent:

Simon Peng-Keller

»Die Leute glauben nicht mehr an Gott, sie glauben an die Gesundheit.« Mit dieser prägnanten These des Psychiaters und Theologen Manfred Lütz eröffnet Martin Wendte den Sammelband, der im Rahmen eines von der John Templeton Foundation geförderten Forschungsprojekts entstanden ist. Das Zitat markiert den einen Pol des Spannungsfelds, das die elf Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Der andere Pol wird durch ein Zitat von Adolf von Harnack eingeführt. Dieser postulierte vor über hundert Jahren, dass Jesus als Arzt in die Mitte seines Volkes getreten und die Medizin die Schwester der christlichen Religion sei. Eine solche Geschwisterlichkeit ist allerdings, so Wendtes Diagnose, gegenwärtig aus einem doppelten Grund nur noch schwer erkennbar: zum einen weil biomedizinische und christlich-religiöse Vorstellungen von Gesundheit und einem gelingenden Leben stark auseinandergehen; zum anderen weil die universitäre Theologie Jesus als dem Heiler (und dem christlichen Heilungsauftrag, wie zu er­gänzen wäre) nur wenig Aufmerksamkeit schenkt.
Dem möchte der vorliegende Band dadurch entgegenwirken, dass er das Thema aus neutestamentlicher, dogmatischer, ethischer, praktisch-theologischer und medizinischer Perspektive aufgreift. In der Art und Weise, wie die Autorinnen und Autoren das Spannungsfeld zwischen »Jesus dem Heiler« und der heutigen »Gesundheitsgesellschaft« beschreiben und bewerten, gibt es viele Übereinstimmungen, doch auch einige deutliche Unterschiede. Während beispielsweise der Eröffnungsbeitrag von Markus Mühling ein ähnlich kontrastives Bild zeichnet wie Manfred Lütz, sieht der Hämatologe Sebastian P. Haen, dessen Beitrag den Band ab-rundet, die beiden Pole eher in einem produktiven Spannungs-verhältnis. Sein Fazit: »›Doctors cure, but God heals‹, will always be a possibility to include religious beliefs into modern medicine.« (223)
In anderer Weise komplementär sind die Beiträge von Martin Bauspieß und Ruth Conrad. Die von Ersterem nachgezeichnete Entwicklung, die von der neutestamentlich bezeugten Heilungstätigkeit Jesu zum Christus-medicus-Motiv bei Ignatius von Antiochien führt, kann als ferne Vorgeschichte zu jenen konfessionellen Differenzen gelesen werden, die Conrad mit Blick auf heutige Gottesdienst- und Gebetspraxis herausarbeitet. Ihre Analyse evange-lischer und pfingstkirchlicher Gebetsformulare kommt zu einem klaren Ergebnis: Während die von ihr untersuchten evangelischen Formulare die Heilungsperikopen symbolisch deuten, sie im Dienste einer Handlungsermächtigung der Gesunden ethisieren und damit kranke Menschen rituell-liturgisch »auslagern«, gehen die analysierten pfingstkirchlichen Gebete von der Anwesenheit Kranker aus und verbinden sie performativ mit dem Machtbereich Gottes und der Kraft Christi. Gemäß Conrad spiegeln sich in diesen liturgisch-rituellen Differenzen auch gesellschaftliche und kirchliche Strukturdifferenzen. Der an dieser Stelle markierte Kontrast zwischen Gesellschaften und Kirchen, die von einer funktionalen Differenzierung zwischen Medizin und Religion ausgehen, und solchen, die von einer holistischen Weltsicht bestimmt sind, in der unterschiedliche Systeme miteinander verflochten sind, ist ein wichtiger Hinweis für die Gesamtthematik. Er macht darauf aufmerksam, dass das Thema kultursensibel und in einem globalen Horizont diskutiert werden muss. Diesem Anliegen verpflichtet sind die Beiträge von Diane Stinton und Alexander Kupsch, die afrikanische und pfingstkirchliche Perspektiven in die Diskussion einbringen und so den Blick zumindest ansatzweise auf die globale Entwicklung weiten.
Ein Korrektiv ganz anderer Art stellt Brian Brocks »Meditations on the Healthiest Guy I Know« dar. Im Rückgriff auf Rosenzweig und Bonhoeffer kreisen sie um den Gedanken, dass Gesundheit und Gottesbeziehung untrennbar verbunden sind. Positiv ausgedrückt: »Living with God […] is the healthiest possible state for human beings.« (121) Das Finale des Beitrags, in dem Brock darlegt, weshalb er seinen mehrfach behinderten Sohn Adam für den gesündesten Menschen erachtet, den er kennt, gehört zu den dicht esten Passagen des ganzen Buchs. In seinem ungewöhnlichen Zuschnitt und der überraschenden Perspektive, die er eröffnet, steht Brocks Beitrag für das Buch als Ganzes, das mit seiner Vielfalt an Zugängen einen wichtigen Anstoß zur weiteren theologischen Diskussion darstellt. Kritisch zu erörtern wäre nicht allein der im Band selbst nicht hinterfragte Begriff der »Gesundheitsgesellschaft«, sondern ebenso die Frage, was der christliche Heilungsauftrag in einem zunehmend globalisierten Gesundheitswesen bedeuten könnte. Zu bedauern ist, dass der Band, ohne zumindest darauf hinzuweisen, wichtige Diskussionszweige ausklammert und da­mit hinter seinem programmatischen Anspruch zurückbleibt. Auffällig ist insbesondere, dass die Seelsorgediskussion nur ge­streift wird (im Beitrag von Henrik Simojoki über populäre Seelsorge- und Ratgeberliteratur) und die Auseinandersetzung mit dem stark wachsenden interdisziplinären Forschungs- und Praxisfeld Spiritual Care gänzlich fehlt.