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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

948–950

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Moos, Thorsten

Titel/Untertitel:

Krankheitserfahrung und Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XVI, 707 S. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-155945-7.

Rezensent:

Ulf Liedke

Mit dieser Studie hat sich Thorsten Moos 2017 an der Ruprechts-Karls Universität Heidelberg im Fach Systematische Theologie bei Klaus Tanner habilitiert. M., der Physik und Theologie studiert hat und viele Jahre den Arbeitsbereich »Religion, Recht, Kultur« an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) geleitet hat, ist seit Ende 2017 Professor für Diakoniewissenschaft und Systematische Theologie/Ethik an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Es bietet sich an, die Untersuchung von der systematisch-theologischen Selbstverortung her darzustellen, die M. im Schlusskapitel vornimmt. Er ordnet sie in eine »Systematische Theologie kultureller Felder im interdisziplinären Kontext« (578) ein, die sich als Teil einer multidisziplinären Denkbewegung mit dem Ziel der Erschließung kultureller Phänomene und anthropologischer Grundprobleme versteht. Der konkrete theologische Beitrag bestehe dabei in der Herausarbeitung der »spezifische[n] Ra­tionalität religiöser Reflexionsformen, Symbole und Praktiken« (588) im Umgang mit diesen Problemstellungen.
Das kulturelle Feld der vorliegenden Studie ist das Thema der Krankheit. Angesichts eines weitgehenden Schweigens der Systematischen Theologie verfolgt M. mit ihr das Ziel, »Krankheit als Thema der (protestantischen) Theologie zu entfalten« (18) und »die religiöse Rationalität des Christentums für den Umgang mit Krankheit fruchtbar zu machen« (592). Der Begriff der Krankheitserfahrung bildet dabei den Ausgangspunkt der Studie. Im Anschluss an Helmuth Plessner versteht M. »Krankheit als Erfahrung der Des-integration« (59), die sich in vierfacher Hinsicht präzisieren lässt: als leibkörperliche, soziale, praktische und temporale Desintegration (26, ausführlich 59–72). Menschen müssen sich aufgrund ihrer exzentrischen Positionalität zum Widerfahrnis einer Krankheit in Distanz setzen, sich zu ihr verhalten, sie deuten und ihre Lebensführung auf sie einstellen. Krankheit sei deshalb ein »Deutungsphänomen«, das »im Medium des Sinnes« (77) bearbeitet wird. Die religiöse Valenz des Krankheitsphänomens erschließt sich für M. im Horizont eines Religionsbegriffs, der mit der Leitdifferenz von Bedingtheit/Unbedingtheit bzw. Partikularität/ Ganzheit arbeitet (590). Dabei wird Religion – im Anschluss an Ulrich Barth – »als Sinndeutung im Horizont des Unbedingten« (23) verstanden. Der Desintegrationserfahrung einer Krankheit sind, so M.’ Grundthese, vier unterschiedliche Momente des Integriertseins bzw. der Ganzheit inhärent: biographische, personale, universale und individuelle Ganzheit (28.111–113). Mit ihnen verbinden sich zugleich die vier zentralen Grundprobleme und Aufgaben des Umgangs mit Krankheit: das Problem des Verstehens von Krankheit im Horizont biographischer Ganzheit, das Problem der Würde des Kranken und seiner personalen Ganzheit, das Problem der Gesundheit und da­mit einer universalen Ganzheit und schließlich das Problem der Sorge für den Kranken in der Perspektive seiner individuellen Ganzheit (28.111–113). Diese vier Grundprobleme prägen die Struktur der vier Hauptteile der Arbeit (Kapitel 3–6). Jedes von ihnen wird in Beziehung zu den vier Aspekten personaler Desintegration gestellt. Dabei folgt M. einem Aufbau, der die Reflexion des je-weiligen Grundproblems mit subjektiven Krankheitserzählungen eröffnet, sozial- und kulturwissenschaftliche Referenztheorien einbezieht, Formen religiöser Praxis in den Blick nimmt, systematisch-theologische Deutungsmodelle reflektiert und schließlich ethische Herausforderungen bearbeitet.
Entsprechend dieser Grundstruktur widmet sich M. zunächst dem Verstehen der Krankheitserfahrung. Mehrere vorgestellte Autopathographien erschließt er als Versuche, »die Krankheit in ein sinnvolles Ganzes der eigenen Biographie hineinzuerzählen« (569). Die damit implizierte Ganzheitsdimension sei allerdings an­gesichts der eigenen Desintegrationserfahrung unerreichbar. An dieser Stelle bieten Formen religiöser Kommunikation Möglichkeiten, das Ganze des biographischen Sinnes »als entzogen symbolisch zu repräsentieren« und zugleich »Praktiken der Sinnsuche bereitzuhalten« (270). In der Praxis der Klage könne die Differenz zwischen der eigenen Desintegrationserfahrung und der Integrationshoffnung artikuliert und bearbeitet werden. Die Klage eröffne einen prekären »Raum reflexiver Distanz im und zu eigenen Leiden« (214). Auf theologischer Ebene zeigt M. überdies in der Auseinandersetzung mit Theorien des Übels, dass mit ihnen Reflexionsinstrumente zur Verfügung stehen, die Aporien der Erfahrung und des Umgangs mit Krankheit zu verstehen und bearbeiten helfen (vgl. 242). Die ethische Perspektive der Krankheitsdeutungen entfaltet M. abschließend im Rahmen einer »Diätetik des Krankheitssinns« (265, vgl. 264–271).
Das zweite Grundproblem des Umgangs mit Krankheit zeigt sich darin, dass Betroffene ihre Situation als Stigma, Beschämung und Entwürdigung erleben. Durch die Krankheit erfahren sie ihren Anspruch auf personale Anerkennung missachtet. Damit ist zugleich das Ganzheitsmoment der »unbedingte[n] Anerkennung der ganzen Person« (304) impliziert. Die Aufgabe im Umgang mit Krankheit müsse sich daher auf die »Wiederherstellung von Anerkennung« (309) richten. M. erblickt im Segen eine religiöse Praxis symbolischer Anerkennung, in der kontrafaktisch zur Entwürdigungserfahrung der Zuspruch unbedingter Anerkennung inszeniert wird (316). Theologisch entwickelt er den von Paul Tillich auf die Situationen von Zweifel und Angst angewandten Rechtfertigungsgedanken zum Topos der »Rechtfertigung der Versehrten« weiter (323–330), als unbedingte Anerkennung und »Wieder-ins-Recht-Setzung derer, die sich in ihrer Krankheit missachtet finden« (581). Dieser soteriologische Grundgedanke wird von M. als theologische Theorie der Anerkennung präzisiert (330–340) und zu einer Ethik der Würde (348–374) weitergeführt.
Das dritte Themenfeld der Krankheitserfahrung entsteht im Zusammenhang der Hoffnung auf ihre Überwindung. In Krankheitserzählungen werde regelmäßig »die vollständige Restitution« (381) und damit die Gesundheit thematisiert. Gesundheit sei allerdings mehr als ein somatischer Zustand, sondern vielmehr ein »Totalitätsbegriff« (398). In ihr gehe es »um vollständige Aufhebung der leidvollen Desintegrationserfahrungen, und zwar in jeder Hinsicht« (ebd.). Das mache ihr Ganzheitsmoment aus. M. arbeitet an der religiösen Praxis der Salbung heraus, wie in ihrer Geste zeichenhaft »eine Überwindung leibkörperlicher Desintegration erfahren werden« (411) kann. Theologisch greift er Aspekte von Tillichs Eschatologie auf und entwickelt den Gesundheitsbegriff als eschatologischen Begriff im Zusammenhang einer »Phänomenologie der Hoffnung zwischen Erfüllungserwartung und Kontrafaktizitätsbewusstsein« (454). In ethischer Perspektive setzt sich M. mit dem Transhumanismus und der Anti-Aging-Medizin als Phänomenen einer eschatologisch überlasteten Medizin auseinander (454–477).
Aus zahlreichen Autopathographien ergibt sich als ein weiteres Grundproblem schwerer Krankheiten die Aufgabe, »irgendwie über den Tag zu kommen« (478). Damit verbindet sich die Sorge für Kranke als viertes Hauptthema des Umgangs mit Krankheit. M. diskutiert in diesem Zusammenhang verschiedene Aspekte des neueren Caring-Diskurses. Sorge »als Modus des Umgangs mit Krankheit« versteht er dabei »als Eintreten eines anderen in eine in der Krankheit erfahrene Desintegration« (494). Die damit implizierte Ganzheitsdimension – und damit das religiöse Moment – richte sich hierbei auf die »praktische Integrität« (497) bzw. auf die »Ganzheit der Person« (500). In den Konzepten von Spiritual Care sieht M. angemessene Möglichkeiten für eine religiöse Praxis der Sorge, in der »das wesentliche Menschsein (in seinen uneinholbaren Ganzheitsmomenten)« (517) Beachtung findet. Im Anschluss expliziert M. einen theologischen Begriff der Liebe, in dem stets »das Moment der Anerkennung und das Moment der Sorge zugleich enthalten« (545) ist. Verschiedene Aporien der Sorgepraxis werden abschließend im Rahmen einer Ethik der Pflege behandelt.
Gegenüber der Diagnose des theologischen »Krankheitsschweigen[s]« (10) zeigt M. mit der vorliegenden Untersuchung, dass die christliche Theologie angesichts der Erfahrung schwerer Krankheiten sowohl sprach- als auch diskursfähig ist. In einer beeindru-ckenden Breite und Dichte greift er Themen des weitverzweigten, heterodisziplinären Krankheitsdiskurses auf, diskutiert sie in ihrem jeweiligen disziplinären Kontext und baut sie zugleich in die klug austarierte Architektur seiner Studie ein. Viele der Kapitel, bspw. zum medizinphilosophischen Krankheitsdiskurs, zur Anerkennungstheorie oder zu Sorge und Spiritual Care sind zugleich exzellente, überzeugende Teilstudien. Am konkreten Thema der Krankheitserfahrung zeigt M., wie eine Systematische Theologie kultureller Felder ihre argumentativen Ressourcen in die Erschließung anthropologischer und kultureller Phänomene einbringt. Sie tritt dabei nicht in eine Erklärungskonkurrenz zur Medizin. Mit der Deutung der in der Krankheitserfahrung implizierten Ganzheitsdimensionen reflektiert sie vielmehr das, »was in der Medizin zumeist unthematisch bleibt« (572).
Gelegentlich scheint sich der mit dem Religionsbegriff verbundene Integritäts- und Ganzheitsaspekt etwas vor das Material geschoben zu haben. Dass sich M. beispielsweise an dem für Plessners Anthropologie nicht einschlägigen Begriff der Integration/ Desintegration statt an dem der Organisation (des Lebendigen) orientiert, wird nicht begründet und hat möglicherweise vor allem systematische Gründe. Insgesamt aber hat M. eine brillante Untersuchung vorgelegt, die in jeder Hinsicht Maßstäbe setzt.