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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

938–940

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Koritensky, Andreas

Titel/Untertitel:

Glaube, Vernunft und Charakter. Virtue Epistemology als religionsphilosophische Erkenntnistheorie.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 204 S. = Münchener philosophische Studien. Neue Folge, 33. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-17-034473-0.

Rezensent:

Eberhard Herrmann

Lesern, die an erkenntnistheoretischen und religionsphilosophischen Fragen interessiert sind, kann ich die von der Theologischen Fakultät Paderborn als Dissertation angenommene Schrift des Autors Andreas Koritensky über das Verhältnis von Glaube, Vernunft und Charakter nur empfehlen. Kleinere Schönheitsfehler, z. B. dass manche Denker meiner Meinung nach unnötigerweise ausführlich vorgestellt werden, tun dem keinen Abbruch. Als religionsphilosophische Arbeit nimmt sie »den Glauben vor allem als Teil der menschlichen Überzeugungsbildung wahr und untersucht dessen Verhältnis zur Vernunft« (7). Als erkenntnistheore-tische Arbeit geht sie davon aus, dass diese Disziplin wegen Ab­schwächung des epistemischen Wertes von Wahrheit auf Wahrheitszuträglichkeit zu und wegen Infragestellung des einseitigen epistemischen Ideals von Wissen und des schmalen Sinnes von Recht fertigung »eine Sinnkrise durchläuft, die zugleich Raum für Neugestaltung schafft« (7). Hierfür werden Einsichten aus den Diskussionen um die virtue epistemology verwertet.
Eine philosophiegeschichtliche Einführung erinnert daran, »wie verschieden die Frage nach der Rechenschaftslegung für den Glauben in unserer Geschichte bereits aufgefasst wurde und wie unterschiedlich daher die Antworten auf diese Fragen sind« (11). Aufgrund der Krise der Erkenntnistheorie argumentiert der Vf. dafür, nicht mit der Definition von Wissen als einzigem Ideal zu beginnen, sondern
»eine Phänomenologie an den Anfang zu stellen und zunächst zu untersuchen, wie Überzeugungsbildung tatsächlich vonstattengeht« (12). Der Terminus der Überzeugung (belief) der analytischen Erkenntnistheorie kann beibehalten werden, »muss aber von seiner einseitigen Fixierung auf Propositionen gelöst werden. Damit verändern sich auch das Spektrum der überzeugungsbildenden (doxastischen) Praktiken und das Verhältnis des Subjekts zu ›seinen‹ Überzeugungen. Auf diese Weise wird der Begriff der Überzeugung – und damit auch die Erkenntnistheorie – wieder stärker in der Anthropologie verankert. Diese Verankerung leistet in der neueren Erkenntnistheorie vor allem der Begriff der epistemisch relevanten Tugend.« (12)
Indem darauf Rücksicht genommen wird, dass wir Menschen in und mit einer Vielfalt von doxastischen Praktiken leben, ist nicht von vornherein eindeutig,
»an welchen Kriterien eigentlich Überzeugung zu messen ist. […] Diese Krise der Kriterien epistemischer Bewertung macht es möglich, anstelle des Monopols eines uniformen Wissensbegriffs eine Vielzahl epistemischer Ideale zu entwickeln, die durch die Kombination verschiedener doxastischer Praktiken und epistemisch relevanter Tugenden gekennzeichnet sind.« (13)
Gegen diesen Hintergrund werden schließlich die erkenntnistheoretischen Konsequenzen für die religiöse Glaubensbildung aufgezeigt, nämlich, »wie die religiöse Überzeugungsbildung sich in verschiedene epistemische Ideale (Glaubensmodelle, Theologien) entfaltet und dabei jeweils spezifischen Maßstäben der epistemischen Bewertung unterworfen sind« (13). Der Vf. geht hierbei von der Annahme aus, dass es gerade für die Analyse religiöser Überzeugungsformen unvermeidlich ist, »auch qualitative Unterscheidungen einzubeziehen« (81). Es geht hier um die verschiedenen Modi, in denen Überzeugungen umfasst werden, und um verschiedene Haltungen, in denen eine Überzeugungsbildung erfolgt.
Natürlich kann es in einer religionsphilosophischen Arbeit nicht anders sein, als dass sich der Vf. auf das Phänomen der religiösen Überzeugungsbildung konzentriert. Es ist mir jedoch nicht klar, ob der Einbezug qualitativer Unterscheidungen nur für Religion gelten soll. Meiner Meinung nach trifft ein solcher Einbezug auf alle lebensanschaulichen Überzeugungen zu, die mit der Existenzfrage von uns Menschen zu tun haben. Eine ähnliche Unsicherheit stellt sich ein, wenn es in Bezug auf unter anderen Wittgenstein um die Ablösung in der Überzeugungsbildung vom ursprünglich Instinktiven geht.
»Die Ablösung aus dem Instinktiven erzwingt Entscheidungen. Entscheidungen sind aber nur möglich, wenn es auch Maßstäbe für die Wahl gibt. Für Wittgenstein haben die religiösen Grundemotionen genau diese Funktion.« (122)
Warum sollen nicht auch nicht-religiöse Überzeugungssysteme solche Grundemotionen beinhalten können? Räumt man dies ein, erhält man bessere Voraussetzungen, Überzeugungssysteme, gleichgültig ob religiös oder nicht, kritisch zu beleuchten. Der Vf. hebt hervor, dass eine religiöse Wirklichkeitssicht sich dadurch auszeichnet, »dass sie das Ringen der Menschen (als Gemeinschaft) mit der unvermeidlich gewordenen Frage nach dem richtigen Leben widerspiegelt und so die Existenzgestaltung für den Einzelnen möglich macht« (164 f.). Das gilt auch für eine nicht-religiöse Wirklichkeitssicht. Wieder frage ich mich, ob diese Möglichkeit vom Vf. ausgeschlossen ist, oder ob eher gezeigt werden soll, wie ebenso religiöser Glaube einer kritischen erkenntnistheoretischen Analyse unterworfen werden könnte. So können z. B. unerwünschte religiöse Überzeugungssysteme »vor allem daran erkannt werden, dass sie sich nicht um die Grundhaltung der reli giösen Ehrfurcht gruppieren lassen und daher nicht den Raum von Rationalität und Freiheit schaffen, den Menschen brauchen, um zur Wahl des Lebens zu kommen« (177). Was von unerwünschten religiösen Überzeugungssystemen gesagt wird, dürfte modifiziert für alle Überzeugungssysteme gelten. Durch Einbezug einer virtue epistemology in die Erkenntnistheorie, wie er in der vorliegenden Arbeit entwickelt wird, können Überzeugungssysteme, gleichgültig ob religiös oder nicht, danach bewertet werden – was für ein gutes Leben aller Menschen wichtig ist. Hierzu hat die Arbeit in einer wohl abgewogenen Analyse verschiedener erkenntnistheoretischer Einsichten und durch die Verankerung der Erkenntnistheorie in der Anthropologie einen wichtigen Schritt geschaffen.