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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

927–929

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Enxing, Julia, u. Jutta Koslowski [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Confessio. Schuld bekennen in Kirche und Öffentlichkeit. Hrsg. unter Mitarbeit v. D. Wojtczak.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 296 S. = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 118. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-05406-0.

Rezensent:

Thorsten Moos

Der Sammelband verdankt sich wie schon sein Vorläufer »Contritio. Annäherungen an Schuld, Scham und Reue« von 2017 der Arbeit des DFG-Forschungsnetzwerkes »Schuld ErTragen. Die Kirche und ihre Schuld«. Das Thema ist, nicht zuletzt aufgrund der jüngsten Missbrauchsskandale in den Kirchen, hochaktuell: Was ist von öffentlichen Bekenntnissen überindividueller Schuld zu halten? Wer kann stellvertretend für eine Organisation, gar für eine Institution sprechen? Inwieweit ist solch stellvertretendes Bekenntnis angemessen, inwiefern stellt es eine Anmaßung dar? Wer wäre berechtigt, es anzunehmen? Welchen Sinn hat das Schuldbekenntnis, wenn die in Rede stehenden Verfehlungen vor der Lebenszeit aller Beteiligten liegen?
Die Autorinnen und Autoren des Bandes haben zumeist einen katholisch-theologischen oder, etwas schwächer vertreten, evangelisch-theologischen Hintergrund; hinzu kommen Beiträge aus medienwissenschaftlicher, philosophischer und historischer Perspektive. Eröffnet wird der Band mit einem ebenso materialreichen wie sprunghaften Grundlagenbeitrag des Philosophen Klaus-M. Kodalle SJ zu den Schwierigkeiten des Konzeptes kollektiver Schuld und zu den Ambivalenzen ihres öffentlichen Bekennens. Der Autor benennt am Beispiel von Kirchen und »Völker[n]« (29) Phasen des Schuldumgangs von der Amnesie zur Aussöhnung und weist auf zivilreligiöse Aspekte politisch-kollektiven Schuldbekenntnisses hin. Als Zentrum der öffentlich-kollektiven Problematik im Um­gang mit Schuld macht Kodalle die »fundamentale Grundspannung zwischen den prinzipiellen Geltungsansprüchen von Moral und Recht einerseits und der Unerlässlichkeit von Gnade andererseits« (36) namhaft.
Eine Reihe von Beiträgen analysieren konkrete historische Si­tuationen der Thematisierung kollektiver Schuld. Der Historiker Stephan Linck befasst sich mit dem Umgang der evangelisch-lutherischen Kirche Norddeutschlands mit der NS-Vergangenheit nach 1945, die katholische Theologin Katharina Peetz mit dem Schuldbekenntnis der ruandischen Bischöfe nach dem Genozid von 1994 und die evangelische Theologin Christine Schliesser mit der Aufarbeitung der Apartheid durch die Dutch Reformed Church in Südafrika. Diese Beiträge sind sorgfältig recherchiert und historisch informativ. Auf der Ebene der Textanalyse ist der Beitrag der evangelischen Theologin Jutta Koslowski angelegt, die Dietrich Bonhoeffers Entwurf eines kirchlichen Schuldbekenntnisses von 1940 mit kirchlichen Schuldbekenntnissen nach 1945 vergleicht. Auch dieser Beitrag ist materialreich, aber zugleich von einer weithin unausgewiesenen Kriteriologie »richtigen« Bekennens geleitet (vgl. 134.138.139), die zudem die bei Kodalle aufgewiesenen Ambivalenzen kollektiven Bekennens nicht zu kennen scheint.
Analytisch herausragend ist ausgerechnet ein nicht im engeren Sinne wissenschaftlicher Beitrag: Es handelt sich um den Text »Verantwortung übernehmen« des ehemaligen Rektors des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes SJ, der die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals an seiner Schule und darüber hinaus ins Rollen brachte. Er berichtet von seiner Einsicht, sich als Repräsentant der Institution, in deren Machtgefüge es massiv zu Missbrauch ge­kommen war, nicht mit den Opfern solidarisieren zu dürfen. Es habe vielmehr gegolten, öffentlich mit der Institution identifiziert zu bleiben und damit den Opfern als Adressat ihrer Anklage gegenüberzustehen. Erst ein solches verantwortliches Gegenüber mache institutionelle Schuld benennbar. Der Beitrag ist auch deswegen bemerkenswert, weil hier jemand spricht, der Akteur war und zu­gleich eine analytische Distanz zu dem von ihm mit gestalteten Geschehen aufbringt. Das ist nicht der Fall für den Beitrag des mennonitischen Theologen Rainer W. Burkart, der über den Versöhnungsprozess zwischen Lutheranern und Mennoniten zu Be­ginn des 21. Jh.s berichtet. Auch er schreibt als Akteur über ein Geschehen, das er jedoch ohne jede analytische Distanz als gelungen bewertet (vgl. 287.289 f.). Lesenswert ist wiederum der medienwissenschaftliche Beitrag von Carmen Koch über den Umgang der Kirchen mit Schuld im Kontext der Missbrauchsfälle, der eine Reihe von quantitativ-empirischen Daten anführt. Eher aus medienästhetischer Perspektive betrachtet die evangelische Theologin Magdalene L. Frettlöh das theologische Thema von Gnade und Recht hinsichtlich des Gnadengesuchs des verurteilten Terroristen Christian Klar von 2007. Sie analysiert den Film »Das Wo­chenende« von Nina Grosse vor dem Hintergrund eines theologischen Gnadenbegriffs und kommt so zu einem Plädoyer dafür, auch im Recht den unbedingten Charakter der Gnade als Gabe – trotz deren un­aufgebbarer Ambivalenz – zu erhalten.
Insgesamt fehlt dem Band ein gemeinsames Konzept, das über die Beobachtungen der einzelnen Beiträge hinaus einen analy-tischen Gewinn verspräche. Insbesondere werden neuere Arbeiten zum Umgang mit kollektiver Schuld nicht wahrgenommen, die hier vielleicht Strukturierungshilfen geboten hätten (etwa von Christopher Daase). Die Beiträge erscheinen etwas erratisch zu­sammengestellt; nicht bei jedem Beitrag erschließt sich der Bezug zum Thema (vergleiche etwa den Beitrag der katholischen Theologin Dorothea Wojtczak zu den Bedingungen kirchlicher Vergebung gegenüber einzelnen Mitgliedern im kanonischen Recht), und an einer Stelle wird auf einen Beitrag verwiesen, der im Band nicht enthalten ist (vgl. 226, Fußnote 18). Zur Lektüre empfohlen sei der Band nichtsdestotrotz vor allem aufgrund der genannten historisch orientierten Beiträge. Insgesamt belegt er eindrucksvoll die weitere Notwendigkeit systematischer Arbeit am Begriff und Phänomen kollektiver Aspekte von Schuld.