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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

924–925

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bering, Dietz

Titel/Untertitel:

Luther im Fronteinsatz. Propagandastrategien im Ersten Weltkrieg.

Verlag:

Göttingen: Wallstein Verlag 2018. 229 S. m. 7 Abb. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-8353-3373-4.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

In einem viel beachteten Artikel mit dem Titel »Luthers Abweg« forderte der Soziologe Klaus Holz, Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, die evangelische Kirche müsse sich wie von dem Antisemitismus Luthers nunmehr auch von den auf Luther zurückgehenden völkisch-nationalistischen Traditionen des Protestantismus – hier bezog er sich u. a. auf das Luther-Bild im Ersten Weltkrieg – verabschieden; schon »in den späteren Schriften von Luther selbst« fänden sich »frühnationalistische« Töne (Die Zeit, 24.11.2016, 21). Der pensionierte Kölner Professor für historische Sprachwissenschaft Dietz Bering, der bereits ein Buch »War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe« (Berlin 2014) veröffentlichte, in dem er für eine differenzierte Deutung plädierte, hat nunmehr eine begriffsgeschichtliche Studie zur Luther-Rezeption im Ersten Weltkrieg vorgelegt.
Auf der Grundlage eines Prädikatorenregisters, für das er 58 einschlägige Publikationen auswertete, zeigt B. detailliert und eindrücklich, in welch großem Umfang und auf welch unterschiedliche Art man sich bei der Kriegspropaganda 1914–1918 staatlicher- wie kirchlicherseits auf Luther bezog: Luther »der Hammer«, der Schöpfer der deutschen Sprache und der Bildungsidee, die Personifizierung des deutschen Wesens und der Innerlichkeit – im Gegensatz zur angeblich oberflächlichen, nur an Äußerlichkeiten interessierten, bildungsarmen Zivilisation der Kriegsgegner –, der Prophet und Begründer des Glaubens an die deutsche Mission, der dem Krieg eine sakrale Rechtfertigung zu verleihen vermag; gegen Ende des Krieges dann auch der Retter, der Standhafte und Treue, der radikale Propagandist des »totalen Krieges«, der »Mannhafte«, das tugendhafte Vorbild mit Mut, Tapferkeit, ja Todesmut, der Garant der Einigkeit und recht verstandenen – und nicht im individualistisch-libertinistischen Sinne missverstandenen – Freiheit, die Kämpfernatur mit der »trotzig-deutschen« Kraft des Durch-haltens, schließlich gar der Held, »große Führer« und »heimliche Kaiser«.
Ganz im Gegensatz zu Holz legt B. großen Wert auf die Unterscheidung zwischen dem historischen Luther und seinem Denken einerseits und der vornehmlich an der Persönlichkeit, dem »Charakter«, interessierten Rezeption andererseits. Und hier nun konstatiert B. – gleichfalls im Gegensatz zu Holz – ganz überwiegend eine anachronistische und unsachliche Vereinnahmung und In­strumentalisierung Luthers und nur in Ausnahmefällen eine gewisse Anschluss- oder Analogiefähigkeit. Das geschieht in dem gut lesbaren Buch erfreulicherweise keineswegs in platt apologetischer Weise, sondern sachlich und kenntnisreich, und ohne die aus heutiger Sicht problematischen Seiten Luthers zu verschweigen. Insbesondere verweist B. darauf, dass Luther vornehmlich in religiösen Dimensionen gedacht habe und es ihm letztlich um das jenseitige Reich Gottes gegangen sei, und er zeigt anhand von Beispielen detailliert auf, dass und wie man im Ersten Weltkrieg entsprechende Lehren und Äußerungen Luthers ganz ungeniert politisch umgedeutet und auf das Diesseits, genauer das Deutsche Reich, bezogen habe. Sehr instruktiv sind u. a. auch die differenzierten Analysen zu Luthers Lehre vom Krieg und vom Widerstandsrecht im Krieg (110–132). Zu Recht gibt B. schließlich zu bedenken, dass Luther Begriffe wie »Staat«, »Rasse«, »deutsches Volk« und »Nation« – zumindest im modernen Sinne – noch gänzlich unbekannt wa­ ren. B. zeigt teilweise massive Verfälschungen, geflissentliches Weglassen, Verdrehungen, »meist verzerrende Berühmungen« (139) und Usurpationen auf und spricht gar von »Verfälschungsenergie« (83 u. ö.). Es mag sein, dass das alles etwas einseitig ist und mitunter redundant wirkt. Der nahezu ausschließlich begriffsgeschichtliche Zugang verhindert womöglich manchmal ein tieferes Eindringen in die Argumentation der Weltkriegsschriften. Allerdings ist B. nicht entgangen, dass sich bei Autoren wie Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack und Karl Holl neben Anklängen an den Zeitgeist auch andere Töne finden und dass Letzterer »schließlich die große Wende: die Rückgewinnung des religionsbestimmten Luther einleitete« (170 f.).
Ein Vergleich mit anderen stilisierten Vorbildern, wie z. B. Friedrich dem Großen, sowie mit Vorbildern in anderen, insbesondere auch gegnerischen Ländern, wäre ferner wünschenswert ge­wesen. Hin und wieder schießt B. schließlich vielleicht über das Ziel hinaus, so etwa, wenn er meint, das Mitglied der Obersten Heeresleitung und der spätere Reichspräsident Hindenburg sei »jedenfalls ›religiös unmusikalisch‹« gewesen (117) – dieser hatte im­merhin eine evangelische Schule besucht und galt später selbst in bekenntniskirchlichen Kreisen als verlässlicher Protestant, nachdem er sich im Sommer 1933 im Sinne der kirchlichen Opposition gegen die Machtbestrebungen der nationalsozialistischen »Deutschen Christen« in den Kirchenstreit eingeschaltet und sich in seinem einzigen in der Presse veröffentlichten Schreiben als Reichspräsident an den Reichskanzler Hitler ausdrücklich nicht nur als Staatsoberhaupt, sondern auch »als evangelischer Christ« zu Wort gemeldet hatte (vgl. Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1. Frankfurt a. M./Berlin 1977, 465). Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen kann B.s Buch aber wohl als ein notwendiges Korrektiv zu Tendenzen bestimmter evangelischer Kreise rund um das 500. Reformationsjubiläum verstanden werden, aus einer betonten Distanzierung von dem in unhistorischer Weise zur politischen Negativfolie stilisierten »Gründervater« aktuell politisches Kapital zu schlagen und dabei dessen theologische Grundanliegen – die man natürlich heutzutage durchaus kritisch reflektieren muss – mehr oder weniger zu ignorieren.