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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

920–922

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Wilson, Kenneth M.

Titel/Untertitel:

Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to »Non-free Free Will«. A Comprehensive Methodology.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XXIV, 388 S. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 111. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-155753-8.

Rezensent:

Johannes Stoffers SJ

Augustinus verabschiede sich als Lehrer der Gnade von der Annahme, der Mensch sei in seinem Willen frei, und entwickle eine problematische Spielart der Prädestinationsthese. Letztere nennt Kenneth M. Wilson, Professor für Systematische Theologie und Kirchengeschichte an der Grace School of Theology in The Woodlands, Texas, in seiner hier als Monographie vorliegenden und in Oxford verteidigten Dissertation präzise »Divine Unilateral Predetermination of Individuals’s Eternal Destinies« (kurz: DUPIED, 3). Einleitend skizziert er die seines Erachtens unter Augustinus-Interpreten weitgehend als Konsens geltende Position, dass bereits die Schrift Ad Simplicianum aus dem Jahr 396/7 den theologischen Gesinnungswandel Augustins anzeige und durch die Auseinandersetzung mit paulinischen Briefen (Röm 7; 9–11; 1Kor15) bedingt sei (1). Der Vf. macht auf das chronologische Problem aufmerksam, dass der Kirchenvater erst ab 412 mit der beginnenden pelagianischen Kontroverse daraus die Konsequenzen zu ziehen scheint, in der Zwischenzeit dagegen weiter am freien Willen festhält. Seine Lösung lautet: Diejenigen Passagen von Ad Simplicianum, die den radikalen Wandel in Augustins Position anzeigen, verdanken sich einer späteren Korrektur der Schrift durch ihren Autor (147). Dasselbe gelte auch für das sonst in die Jahre 388–95 zu datierende Werk De libero arbitrio; hier habe Augustinus die Abschnitte 47–54 des dritten Buches nachträglich eingefügt (135–38). Die für die Monographie zentrale historische These lautet also, erst im Jahr 412 gebe Augustinus die Annahme menschlicher Willensfreiheit auf und »bekehre« sich zur Lehre von DUPIED.
Zur Absicherung der These analysiert der Vf. nicht nur die betreffenden Einzelwerke, sondern holt weit aus: Ein erstes Kapitel beschreibt den philosophisch-religiösen Kontext und zeigt, dass die alten indo-mesopotamischen Religionen, die Gemeinschaft von Qumran, Stoiker, Gnostiker, Manichäer und Neuplatoniker DUPIED vertreten (11–39), meistens in Form der Annahme eines Schicksals. Ohne den freien Willen explizit zu verneinen, werde dieser so interpretiert, dass er mit dem determinierenden Schicksal vereinbar zu sein scheint; der Vf. spricht von »non-free free will« (18.38). Eine Ausnahme im skizzierten Bild stelle dagegen das Judentum dar, das in seinen Hauptströmungen die menschliche Willensfreiheit festhält und diese mit Gottes Souveränität zu vereinbaren sucht. Im 2. und 3. Kapitel lässt der Vf. Augustinus vorausgehende christliche Autoren zu Wort kommen, die sich auf derselben Linie bewegen und die menschliche Willensfreiheit besonders gegenüber nicht-christlichen Schicksalstheorien verteidigen (41–94). Was die Werke Augustins betrifft, weist der Vf. nach, dass diese bis zum Jahr 411 ebenso an der menschlichen Willensfreiheit festhalten (4. und 5. Kapitel, 95–138), ausgenommen die bereits genannten, als spätere Interpolation gedeuteten Abschnitte weniger Schriften. Wie sich die theologische »Bekehrung« – das 6. Kapitel (139–55) thematisiert die dafür bedeutsamen Zusätze zu Ad Simplicianum – in den ab 412 entstandenen Werken niederschlägt, erläutert der Vf. im 7. und 8. Kapitel (157–213), bevor er im Rahmen von zwei weiteren nachvollzieht, inwiefern sich der Wandel in Augustins Predigten und Briefen (215–39) sowie in seiner Auslegung der Heiligen Schrift (241–71) niederschlägt. Eine Zusammenfassung (273–98) der Ergebnisse schließt die Ausführungen ab.
Über die historische These hinaus will der Vf. erklären, warum Augustinus seine theologische Position wechselt. Dazu zählt er verschiedene Faktoren auf (281–86), wobei er hervorhebt, dass die in Nordafrika übliche, von Kritikern angefragte Praxis der Kindertaufe und die problematische Übersetzung von Röm 5,12 – in quo om-nes peccaverunt – eine besonders gewichtige Rolle spielen. Außerdem formuliert der Vf. eine globale Interpretation der »Be­kehrung«; als Ergebnis hält er – gegen die anfangs wiedergegebene, als Forscherkonsens charakterisierte Behauptung – fest, dass Augus-tinus nicht seine vor 412 gehegten christlichen Überzeugungen einer christlichen Gnaden- und Prädestinationslehre weiterentwickle, sondern zum Heidentum zurückkehre: »Pagan DUPIED has replaced Christian predestination« (205), heißt es zum Beispiel mit Blick auf De dono perseverantiae von 429/30. Die für die antipelagianischen Werke behauptete »heidnische« Wende in Augustins Denken expliziert der Vf. in mehrfacher Weise: Bestimmend sei, dass sich Augustinus an Thesen Ciceros bzw. der Stoa zum menschlichen Willen, zur göttlichen Vorsehung und zum Schicksal orientiere (160 f.253.258.271.291 f.297). In Bezug auf die Behauptung, der Mensch sei infolge der Sünde nicht mehr (Eben-)Bild Gottes, übernehme Augustinus die Lehre Plotins (150.168). Des Weiteren vergleicht der Vf. den neuen Standpunkt wiederholt mit der Gnostik und dem Manichäismus (172.189.257.269). Abschließend verleiht er seinem Bedauern darüber Ausdruck, dass es die Kirche im beginnenden 5. Jh. durch geschichtliche Umstände nicht vermocht habe, Augustinus, den »Lehrer der Gnade«, im Rahmen einer letzten »Be­kehrung« von der manichäischen Gnade zurück zur traditionellen unverdienten Gnade der Christenheit zu bewegen (298).
Die Monographie trägt den Untertitel »A Comprehensive Me­thodology«, die der Vf. knapp (und ein wenig redundant) als »read-ing systematically, chronologically, and comprehensively through his [Augustine’s] entire corpus« (2) erläutert. Tatsächlich ist die Untersuchung beeindruckend umfassend (comprehensive). Darin liegt ihre Stärke und zugleich ein erstes Problem: Unvermeidlich wird die Präsentation vieler Werke Augustins, mehr noch aber der Positionen anderer Autoren, knapp und oberflächlich. Für den Leser hilfreich sind die Zusammenfassungen, die der Vf. am Ende jedes Kapitels bietet. Ansonsten bereitet die Lektüre leider oft Mühe:
Begriffe wie zum Beispiel héxis, epithymía, apokatástasis, propátheia, middle knowledge oder Durkheims homo duplex werden verwendet, nicht aber erläutert. In den englischen Haupttext flechtet der Vf. griechische, lateinische, deutsche oder französische Zitate ein, deren Zusammenhang mit den Ausführungen nicht immer nachvollziehbar ist. Für einige ausdrückliche Schlussfolgerungen aus zitierten Aussagen gilt dasselbe: Zum Beispiel ist die Rede von »Folter« (torture, 231) durch die angeführten lateinischen Passagen im Zusammenhang von Lk 14,23 (compelle intrare) keineswegs gedeckt. Primärtexte Augustins und sekundäre Interpretationen (Letztere teils hohen Alters) fließen oft ineinander.
Verstörend sind zahlreiche Fehler in griechischer und lateinischer Grammatik; mag es sich um in den Fließtext eingefügte Halbzitate oder um einzelne Wortkombinationen handeln. Den philosophisch geprägten Leser verwundert schließlich die unbefangene Rede des Vf.s zum Vorherwissen Gottes (23), als ob es diesbezüglich gar kein Determinismusproblem geben könnte.
Die streitbaren Thesen des Vf.s laden ein, sich mit Augustinus selbst zu beschäftigen, zu erforschen, welche Motive ihn zu den verschiedenen Phasen seiner Reflexion über die Gnade und den freien Willen bewegt haben, und vor allem zu bedenken, wie beides miteinander vermittelt werden kann.