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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

903–905

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Korner, Ralph J.

Titel/Untertitel:

The Origin and Meaning of Ekklēsia in the Early Jesus Movement.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. XV, 366 S. = Ancient Judaism and Early Christianity, 98. Geb. EUR 136,00. ISBN 978-90-04-34498-3.

Rezensent:

Benjamin Schliesser

Im Umfeld des Paulus etablierte sich der Begriff ἐκκλησία als Selbstbezeichnung griechisch sprechender jüdischer Christusgruppen. Seine rückblickende Notiz, er habe »die ἐκκλησία (Gottes) verfolgt« (1Kor 15,9; Gal 1,13; Phil 3,6), lässt fragen, ob schon die »Hellenisten« in Jerusalem und Damaskus den Begriff als Selbstbezeichnung gebrauchten (vgl. skeptisch: 170–173.259.264). Neuere Studien zum Thema heben den situativen Gebrauch des Begriffs hervor, der nicht eine überregional normative Gestalt von »Kirche«, sondern ortsspezifische organisatorische Strukturen bezeichnet. Zunehmend wird bei der Analyse des frühchristlichen ἐκκλησία-Diskurses die kulturelle Enzyklopädie berücksichtigt, aus der die frühe Christenheit schöpfte und die sie ihrerseits bereicherte. Der Aufgabe, den Verstehenshintergrund und die ideologischen Implikationen der paulinischen Begriffsverwendung auszuleuchten, stellt sich auch die überaus anregende Studie von Ralph J. Korner, die auf seiner an der McMaster University (Hamilton, Kanada) eingereichten Dissertationsschrift basiert.
K. verzichtet (bedauerlicherweise) auf einen einführenden Forschungsüberblick und stellt seiner Studie stattdessen drei erkenntnisleitende Fragen voran. Sie ordnen die Verwendung des Lexems ἐκκλησία in einen begriffsgeschichtlichen, politischen und ethnisch-religiösen Rahmen ein: 1. Welche antiken Gemeinschaftsformen verwendeten als Selbstbezeichnung den Begriff ἐκκλησία? 2. Wohnt dem Begriff eine antiimperiale Stoßrichtung inne? 3. Schließt er supersessionistische Anschauungen ein? Gleich zu Beginn formuliert K. die Antworten auf seine Fragen: »Paul’s diasporic communities, the first associations in the early Jesus Movement to self-designate permanently as ekklēsiai, (1) reflect civic ideology, (2) for the creation of an alternative society, (3) that is not counter-imperial, (4) nor a trans-local parallel political organiza-tion. Rather, Paul’s ekklēsia communities are trans-locally connected associations: (1) with an inherently Jewish heritage, yet which are socially accessible to Greco-Romans, (2) and which could have been viewed as pro-›democratic‹, counteroligarchic participants in the ubiquitous ›ekklēsia discourse,‹ (3) of the newly developing political culture of 1st century CE Greco-Roman society, particularly in Asia Minor« (21, vgl. 174 f.).
Wichtigstes Verdienst der Arbeit ist die erschöpfende computergestützte Analyse aller epigraphischen ἐκκλησία-Belege vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. So kann K. zusätzlich zu den literarischen Quellen mehr als 1800 Verwendungen des Begriffs in In­schriften einbeziehen (22–80; vgl. Appendizes 1–3). In der frühchristlichen ›Usurpation‹ politischer Terminologie, wie sie u. a. in der Aufnahme der Bezeichnung ἐκκλησία vorliegt, erblickten die römischen Autoritäten nach K. keineswegs eine Opposition gegen den Staat, geschweige denn aufrührerische Ideologie (52), sondern den Willen, einen »positiven« Beitrag zum Sozialwesen zu leisten (7.80.213 u. ö.). Doch schätzt K. den kühnen (vgl. 80: »ostentatious«) politischen Selbstanspruch der frühchristlichen Gemeinschaften nicht zu gering ein? Inmitten der politischen Bürgerversammlungen der Städte (ἐκκλησίαι) versammelt sich eine Gegenöffentlichkeit (vgl. 175: »alterna-tive society«), die sich von der hierarchischen Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, alternative Zugangsbedingungen festsetzt, Entscheidungen nach eigenen Grundsätzen trifft und mit dem Anspruch auftritt, auf die Geschicke einer zivilen Gemeinschaft einzuwirken (vgl. schon 1Thess 1,1: ἡ ἐκκλησία Θεσσαλονικέων). Darin unterscheiden sich die Christusgruppen jedenfalls kategorisch von Vereinen, die sich strategisch an politischen Strukturen orientierten und sie imitierten. K.s epigraphische Untersuchungen untermauern auf breiter Quellenbasis, dass zwar eine Vereinsversammlung ἐκκλησία genannt werden konnte, der Begriff aber nie als Vereinsbezeichnung belegt ist: »There is no extant epigraphic evidence of an association using ekklēsia as a group title« (78). Dieser Befund setzt ein kräftiges caveat gegenüber einem aktuellen Trend der Forschung, demzufolge sich Organisationsmerkmale von Christusgruppen und Vereinen großflächig überschneiden.
Nach seiner Analyse der Verwendungsweisen von ἐκκλησία in griechisch-römischen Quellen wendet sich K. jüdischen Schriften zu (81–149): der Septuaginta, Judit, Ben Sira, 1Makkabäer, Josephus, Philo und Paulus. Ihm liegt daran zu zeigen, dass die Selbstbezeichnung frühchristlicher Gemeinschaften als ἐκκλησία sie in einen jüdischen Traditions- und Kulturbereich einstellt (21.149. 152.175 u. ö.: »Jewish heritage«). Im Resümee entwickelt er eine Typologie des ἐκκλησία-Diskurses im jüdischen Schrifttum: Der Begriff meint das ethnisch-religiöse Israel (ἐκκλησία τοῦ θεοῦ u. a.), öffentliche synagogale Versammlungen in Judäa und Alexandria und – mindestens an einer Stelle (Philo, Virt. 108) – die Gruppenidentität einer halböffentlichen jüdischen Vereinigung in Alexandria, die der religiösen Unterweisung von Konvertiten dient (127: »semi-public association«). Belege aus Qumran zieht K. nicht zur Begriffsklärung bei (vgl. vor allem 1QM IV,10). Daher bleibt ein Aspekt außer Acht, der in der älteren Forschung zentral war, nämlich der theologische Anspruch frühchristlicher Gemeinschaften, »endzeitliches Aufgebot Gottes« zu sein (J. Roloff).
Das ausführlichste Kapitel (150–262) ist Texten der frühen Jesusbewegung, vor allem den Paulusbriefen gewidmet. Paulus habe den Diskurs dadurch bereichert, dass er in seinem ἐκκλησία-Konzept die griechisch-römische zivile ἐκκλησία mit einer jüdischen ethnisch-religiösen ἐκκλησία verschmolz, um daraus eine halböffentliche, multi-ethnische und von der polis unabhängige Vergemeinschaftung zu formen, die in der Lage war, divergente Identitäten von Griechen, Römern, ›Barbaren‹ und Juden aufzunehmen und zu bewahren (173). Das paulinische »group identity construction project« (12.167–173.264) wurde freilich nicht am Reißbrett entworfen, sondern erwuchs als work in progress aus den Erfordernissen seiner Missionstätigkeit und den Gegebenheiten seiner Gemeindegründungen. Die Kontingenzen frühchristlicher Identitätsbildung in den stürmischen Anfangszeiten geraten etwas aus dem Blick, wenn von einem »Projekt« oder von »Identitätskonstruktion« die Rede ist und wenn dieses Projekt überdies (anachronistisch?) als ein prodemokratisches, antioligarchisches, nicht-supersessionistisches und multi-ethnisches charakterisiert wird.
In fünf Appendizes (308–327) bietet K. Zusammenstellungen von ἐκκλησία-Belegen (1.) aus Inschriften des 1. Jh.s v. Chr., (2.) des 1. Jh.s n. Chr., (3.) des 2. Jh.s n. Chr. sowie von Wendungen aus συνάγω und εἰς ἐκκλησίαν in (4.) griechischen Quellen und (5.) bei Josephus. Quellen-, Sach- und Autorenregister erschließen den vorzüglich redigierten Band (328–366). Das Anliegen K.s, seine Denkwege zu erläutern, Primärtexte zu dokumentieren und sich mit der Forschung auseinanderzusetzen, kollidiert hin und wieder mit dem Fassungsvermögen des Anmerkungsapparates. Wer mit der deutschsprachigen Forschungslandschaft vertraut ist, wird manch einschlägige Arbeit vermissen (und über zahlreiche Verschreibungen deutscher Titel stolpern). Insgesamt hat K. jedoch eine klar strukturierte, minutiös und ausgewogen argumentierende Studie vorgelegt und mit umfassender Quellenkenntnis und breiter Berücksichtigung des (vor allem angelsächsischen) wissenschaftlichen Diskurses einen wichtigen Beitrag geleistet zur sozialen, politischen und religiösen Verortung der frühen Jesusbewegung in der antiken Welt.