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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

879–882

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schuller, Eileen, u. Marie-Theres Wacker[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Frühjüdische Schriften. Übers. v. G. Baumann u. P. Porzig.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2017. 284 S. m. 1 Tab. = Die Bibel und die Frauen, 3.1. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-17-032496-1.

Rezensent:

Beate Ego

Mit diesem Werk liegt ein weiterer Band der Enzyklopädie »Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie« vor, die sich der Geschichte der Bibelauslegung unter dem Akzent von Genderkonzepten widmet und die von Irmtraud Fischer (Graz) sowie Christiana de Groot, Mercedes Navarro Puerto und Adriana Valerio herausgegeben wird (vgl. die bisher erschienenen Rezensionen zu Bd. 1.1: in ThLZ 136 [2011], 141 f.; zu Bd. 1.3: in ThLZ 140 [2015], 920–924; zu Bd. 2.1: in ThLZ 138 [2013], 320–323; zu Bd. 5.1: in ThLZ 141 [2016], 1059–1061; zu Bd. 8.2: in ThLZ 140 [2015], 925–927; zu Bd. 9.1: in ThLZ 142 [2017], 487–489; vgl. auch www. bibleandwomen.org/DE/).
Im Band von Schuller und Wacker nun stehen verschiedene frühjüdische Schriften im Fokus des Interesses, also Literaturwerke, die im Judentum in der hellenistischen Zeit ab 330 v. Chr. sowie in der Römerzeit bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. entstanden sind. Charakteristisch für diese Literatur ist das weite Spektrum der literarischen Gattungen sowie ihre lokale Streuung im Land Israel selbst als auch in der ägyptischen Diaspora. Nach einer allgemeinen Einführung zur Begrifflichkeit »Frühjüdische Schriften« sowie zur Struktur des Bandes und den unterschiedlichen methodischen Zugängen (7–12) präsentieren die ersten vier Beiträge unter der Gesamtüberschrift »Frühjüdische Literatur in Gender-Perspektive« vor allem verschiedene Frauen-figuren, die als »Heldinnen« in den einschlägigen Werken dargestellt werden (mit Ausnahme des »Brief des Jeremias«).
So widmet sich Adele Reinhartz in ihrem Beitrag »Das septuagintagriechische Esterbuch: Eine hellenistisch-jüdische Rachefantasie« (13–32) zunächst der Figur der Ester, wie sie in der Septuagintafassung des Buches erscheint. Durch einen Vergleich mit Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds« kommt Vfn. zu der These, dass es sich bei der griechischen Ester um eine Rachefantasie handelt, deren Funktion darin liegt, »unter der jüdischen Diaspora Misstrauen, Abneigung und vielleicht sogar eine feindselige Haltung gegenüber den Nachbarn zu schüren«. Das Buch soll so als Warnung verstanden werden, »den einheimischen Mächten uneingeschränkt zu vertrauen« (30). Barbara Schmitz und Lydia Lange heben in ihrem Aufsatz »Judit: schöne Weisheitslehrerin oder fromme Frau? Überlegungen zum Buch Judit« (33–50) in einem umfassenden Porträt der Heldin hervor, dass Judits Schönheit nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern auch als Ausdruck ihrer Beziehung zu Gott inszeniert wird, insofern ihre Schönheit Ausdruck ihrer Gottesfurcht ist (39). Während Schönheit in der LXX-Fassung von Anfang an zum Wesen Judits gehört und mit ihrer Gottesfurcht korreliert, stehen diese Eigenschaften für die Vulgata in einem deutlichen Gegensatz, da Judit hier von Gott nur zur Durchführung ihres Planes schön gemacht wird. In »Geschlecht, Status, Ethnos und Religion: Eine intersektionale Analyse von ›Joseph und Aseneth‹« (51–67) wirft Angela Standhartinger neue Perspektiven auf diesen antiken Roman, indem sie die dargestellten Geschlechterkonstruktionen im Hinblick auf ihre Verbindung mit Status, Religion und Volkszugehörigkeit analysiert. Identität wird dabei nicht »essentialistisch, d. h. im Sinne einer Wesensbestimmung verstanden, sondern als eine Konstruktion aus verschiedenen Identitätskategorien hergestellt, mit denen die Figuren des Romans charakterisiert werden« (53). Asenat (oder Aseneth?) wird zum Paradigma des Loyalitätswechsels von den ägyptischen Göttern zum höchsten Gott, allerdings tauscht sie dabei zunächst ihre Selbständigkeit mit der Rolle einer Sklavin, um schließlich aber Königin von Ägypten und Retterin Israels zu werden. Im letzten Beitrag dieses Buchteils untersuchen Marie-Theres Wacker und Sonja Ammann in ihrem Beitrag »Das Heilige und die Frauen. Geschlechterkonstruktionen im ›Brief des Jeremia‹« (68–86) das Frauenbild im »Brief des Jeremia«. Dieses steht in einem engen Bezug zum Hauptanliegen des Briefes, gegen die Verehrung von Götterbildern zu polemisieren. Wenn Frauen wie Priester für ihr aktives Handeln im Götterkult kritisiert werden, so wird deutlich, dass Frauen als kultisch eigenständig Handelnde wahrgenommen wurden.
Im zweiten Teil des Werkes – überschrieben mit »Biblische Frauen-Figuren in frühjüdischen Relectüren« – wird die frühjüdische Rezeption von biblischen Frauen aus Gen und Ex in drei Beiträgen exemplarisch dargelegt. Magdalena Díaz Araujo gibt in ihrem Aufsatz »Die Sünden der Ersten Frau. Eva-Traditionen in der Literatur des Zweiten Tempels unter besonderer Berücksichtigung der Schrift ›Leben Adams und Evas‹« (87–107) zunächst einen allgemeinen Überblick zur Figur der Eva im Buch Jesus Sirach, im äthiopischen und slavischen Henochbuch sowie in den Sybillinischen Orakeln und bei Philo von Alexandrien, um dann den Fokus auf die Schrift »Leben Adams und Evas« zu legen. Die Figur Evas, die so­wohl als schuldhaft als auch von Schuld entlastet dargestellt wird, dient hier der Veranschaulichung unterschiedlicher Vorstellungen von Sünde, die im Kontext differierender zeitgenössischer Sündenkonzepte im 1. Jh. n. Chr. stehen. Auch Veronika Bachmann widmet sich dem Thema der Schuldzuweisung an die Frauen: In ihrem Beitrag »Himmelsmänner, verführt von Menschenfrauen? Die frühjüdischen Versionen der Erzählung über die Verbindung von ›Gottessöhnen‹ und ›Menschentöchtern‹ (Gen 6,1–4)« (108–132) stellt sie anhand einer kritischen Nachzeichnung der Rezeptionen von Gen 6,1–4, wie sie sich im Wächterbuch, in der Tierapokalypse, im Jubiläen- und 2. Baruchbuch sowie im Testament Rubens finden, dar, dass es erst in römischer Zeit in der Rezeptionsgeschichte von Gen 6,1–4 zu einer Schuldzuweisung an die Frauen kam (so Testament Rubens 5,6–7). Die älteren Texte klagen die Wächter genannten Engelswesen als Verursacher von Gewalt und Krieg an. Auf ein po-sitives Frauenbild verweist Hanna Tervanotko in ihrem Beitrag »›Die Prinzessin ließ mir alles zukommen, wie wenn ich aus ihrem Schoße stammte‹ (Exagoge 37–38). Exodus 2 in der Zeit des Zweiten Tempels« (133–155). Sie kann zeigen, dass die Figur der Pharaotochter in der griechischen Exagoge positiver als in der biblischen Vorlage in Ex 2 dargestellt wird, da im hellenistischen Alexandria die Vorstellung einer bildungsorientierten Erziehung durch die Mutter akzeptabel war. Darüberhinaus verweist der Beitrag aber auch noch auf weitere Frauenfiguren aus Ex 2,1–10, die in der Literatur aus der Zeit des Zweiten Tempels rezipiert und ausgestaltet wurden.
Die Beiträge des dritten Teils dieses Werkes beschäftigen sich – so die Überschrift im Literaturverzeichnis – mit den frühjüdischen Schriften »in ihren historischen Kontexten« (156–173). Tal Ilan beschreibt in diesem Rahmen die Darstellung Deboras (Ri 4,1–10), der Tochter Jiftachs (Ri 11,29–40), Esters, der moabitischen und midianitischen Frauen in Num 25,1–3 sowie die der Tochter des Pharaos (Ex 2,5–10) in Josephus’ Antiquitates. Negative Frauenbilder sind dabei nicht Josephus anzulasten, vielmehr benutzte dieser Vorlagen aus den romanhaften Erzählungen der hellenistischen Literatur. Josephus ist somit »als Historiker ernst [zu nehmen,] der Quellen verarbeitet hat, statt ihn als Schriftsteller zu sehen, der frei neue literarische Welten schafft« (157). Maren R. Niehoffs Analyse von Frauendarstellungen in frühen und späten Schriften Philos in ihrem Beitrag »Zwischen gesellschaftlichem Kontext und individueller Ideologie. Die Entwicklung des Frauenbildes bei Philo von Alexandria« (174–210) betont die Vielfältigkeit der Frauenbilder im Werk Philos von Alexandrien. Durch seinen Aufenthalt in Rom und seine dortige Begegnung mit dem römischen Stoizismus fand eine Neuorientierung des Frauenbildes statt, das dessen weltliche Realität würdigt. Auch Joan E. Taylor beschäftigt sich in ihrem Aufsatz »Frauen in der Realität und in literarischer Retusche. Die Frauen unter den Therapeuten in Philos De vita contemplativa und die Identität dieser Gruppe« mit Philo. Sie untersucht die Rolle der Frauen in der Gruppe der sogenannten Therapeuten und damit die Beteiligung von Frauen am religiösen Leben in Alexandrien. Sie kommt zu dem Schluss, dass diese als »Teil einer gewissen sozialen Elite in Alexandria angesehen werden können« (210) und einem Milieu zugehörten, das die Bildung von Frauen und Mädchen förderte. Da es für Philo völlig unproblematisch war, von einem weiblichen Lehrer in der Philosophie zu sprechen, ist anzunehmen, dass es in seinem Milieu auch gebildete Philosophinnen gab. Der Band schließt mit einem Beitrag von Maxine L. Grossman, »Die Welt von Qumran und die Gruppe der sectarian texts vom Toten Meer in genderspezifischer Perspektive« (211–234), der die Aussagen über Frauen und Ehe in den drei Gemeinschaftsordnungen (Gemeinschaftsregel, Damaskusschrift und Gemeinderegel) un­tersucht. Neben einer interessanten Zusammenstellung des Ma­terials, das die unterschiedlichen Einstellungen zu Ehe, Familie und Sexualität innerhalb des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels zeigt, bietet der Beitrag wichtige hermeneutische Hinweise, insofern Rückschlüsse von der Textwelt auf konkrete historische Gegebenheiten mit großer Zurückhaltung gezogen werden sollten.
Der Band schließt mit einer Bibliographie, die alle Titel der einzelnen Beiträge zusammenfasst, sowie einem Abkürzungsverzeichnis, einem Stellenregister und biographischen Angaben zu den Autorinnen.
Wenn die Überschriften zu den einzelnen Buchteilen auch recht unscharf sind, da letztlich für alle Beiträge die Genderperspektive gilt und nur ansatzweise auf den historischen Kontext der Schriften eingegangen wird, ist festzustellen, dass dieser Band der Enzyklopädie einen großen Gewinn für die Erforschung der frühjüdischen Literatur darstellt, da hier ein guter Überblick über die Rolle von Frauen in vielen wichtigen Schriften gegeben wird. Gerne hätte man sich allerdings gewünscht, dass dem Label »Enzyklopädie« in der Zusammenstellung der Aufsätze breiter Rechnung getragen worden wäre. Auch wenn Jesus Sirach, die Weisheit Salomos und die Susanna-Erzählung bereits in einem der früheren Bände der Enzyklopädie (Bd. 1.3: »Schriften und spätere Weisheitsbücher«, 2012) behandelt wurden (dazu die Hrsg. in der Einleitung des Bandes, 9), wäre es wünschenswert gewesen, Untersuchungen zu diesen wichtigen Schriften hier nochmals aufzunehmen. Zudem vermisst man einen eigenständigen Beitrag zu den Frauenfiguren in der Tobiterzählung sowie zur Rezeption von Frauengestalten in Schriften wie dem Jubiläenbuch, dem Liber Antiquitatum Biblicarum oder dem Testament Hiobs.
Dennoch: Der Band erlaubt seiner Leserschaft, sich ein recht umfassendes Bild über die Thematik der Frauenfiguren in der frühjüdischen Literatur zu verschaffen. Insbesondere hervorzuheben sind die differenzierten Darstellungen, die nicht in Schwarz-Weiß-Malerei verfallen, und die Versuche, ein breites Spektrum von Methoden für die Interpretation des einschlägigen Materials anzuwenden.