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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

873–875

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Himmelbauer, Markus, Jäggle, Martin, Siebenrock, Roman A., u. Wolfgang Treitler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erneuerung der Kirchen. Perspektiven aus dem christlich-jüdischen Dialog.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 328 S. = Quaestiones disputatae, 290. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-451-02290-6.

Rezensent:

Klaus Müller

Ein besonderes Buch, bezogen auf einen wahrhaft besonderen Anlass: Nostra aetate und die theologische Würdigung der Konzilserklärung 50 Jahre danach. In der Tat hat das Jahr 2015 vielerorts eine intensive Beschäftigung mit der Tragweite der Worte des II. Vatikanums hervorgebracht; so auch ein Studientag an der Universität in Wien, dessen Beiträge den Grundstock der hier vorliegenden Aufsatzsammlung bilden, ergänzt durch weitere Studien aus dem christlich-jüdischen Expertenkreis. Das Wiener Herausgeberteam hat mit seinem Sammelband erneut die immense theologische Wirkkraft jenes Konzilstextes vor Augen geführt, sein theologie- und kirchenerneuerndes Potenzial eindrucksvoll dokumentiert. Nicht im Mindesten sind solche Impulse bereits voll ausgeschöpft und für die Neujustierung von Kirche und Theologie zur Geltung gebracht. Die Wiener Pastoraltheologin Regina Polak bringt den Fokus bzw. die Zielperspektive dieses Bandes auf den Schlussseiten treffend zum Ausdruck: Es gehe, so Polak, um eine umfassende »Metanoia« der Kirche und ihrer Lehre im Angesicht des Judentums mit der präzisen Vision vor Augen: »Dass eine neue christliche Identität aus dem christlich-jüdischen Dialog erwächst und sich der christliche Glaube aus den Quellen des (zeitgenössischen) Judentums nach Auschwitz erneuert.« (320) Die Aussicht auf eine grundlegende am Judentum geschulte Neuorientierung der Kirche sei allerdings, so fügt Polak sofort hinzu, »nicht nur Zu­kunftsmusik, sie stößt auch auf viel Widerstand. Zu bedrohlich ist die Vorstellung, den Glauben einer solchen Wandlung auszusetzen. Abgewehrt wird die Möglichkeit, dass Christ(inn)en mehr oder weniger bewusste Überlegenheitsgefühle gegenüber dem Judentum haben könnten. Aber die spirituell-intellektuelle Er­schöpfung des Christentums hängt untrennbar mit seiner geistig-geistlichen und lebensweltlichen Trennung vom Judentum zu­sammen« (320). Wenn denn christlicher Glaube wesenhaft »dialogisch-verdankte Identität« ist und sich zuallererst der Gnade Gottes verdankt, die sich im Juden Jesus mitteilt, dann kann das Christsein nur zu sich kommen, indem es – in aller Nähe und Differenz – auf das Jüdische bezogen bleibt.
In der Differenzerfahrung des Jüdischen ist aus der essentiellen Bindung ans Judentum heraus das identitätsstiftende Christliche neu zu gewinnen. In diesem Sinne stellt der vorliegende Band einen intensiven Lerngang – fast würde ich sagen: Bußgang – dar. Historisch-geographischer Ausgangspunkt der Beiträge ist Wien, exemplarische Szenerie einer Metropole, die vormals eine der größten jüdischen Gemeinden weltweit beherbergte, dann aber auch zum Schauplatz eines heftigen Antisemitismus wurde. Es spricht für die Ernsthaftigkeit und Bußfertigkeit der hier zu besprechenden Wiener theologischen Programmatik, einer Erneuerung der Kirchen den unverstellten Blick auf die Geschichte des Antisemitismus so-zusagen in den eigenen Reihen voranzustellen (Beitrag von Stefan Schima). Freilich sind Traditionen des Judenhasses nicht nur die Angelegenheit von Metropolen wie Wien, sondern auch geradezu Teil einer »Dorfkultur«, wie Klaus Davidowicz am Beispiel der im Tiroler Volkstum tief verwurzelten Ritualmordlegende ausführt, die sich mit dem Namen Anderl von Rinn verbindet. Was sich sozusagen historisch-konkret immer wieder zeigt, führt Norbert Reck in seinem Beitrag weiter zur Frage nach dem Umgang mit dem christlichen Erbe der Mittäterschaft. Ein ausgesprochen komplexes Phänomen! Reck gelingt hier ein konzentrierter Blick, der auf drei Forderungen zuläuft: »Denk- und Frageverbote nicht mehr akzeptieren«, »Die Diskurse der Schuldabwehr analysieren« und »Die Täterdiskurse mit den Berichten der Verfolgten konfrontieren« (85 ff.). Im eminenten Sinne Bußarbeit. Reck will aus einer Diffusität von Schuld und Schuldtradierungen herausführen, um wieder frei zu werden »zur Empörung, zum eingreifenden Handeln, zur Solidarität« (92).
Unter dem Terminus »Bestandsaufnahme« widmet sich ein zweiter Abschnitt dieses Bandes den theologischen Implikationen der Konzilserklärung Nostra aetate selbst (93 ff.). Die erste Stimme kommt dem jüdischen Theologen Edward Kessler aus Cambridge zu. Er unterstreicht die wegweisende Bedeutung der Erklärung – im Vatikanum II finde die Kirche aus einer Haltung des Monologs zum Dialog. Alte Zuschreibungen im Geiste eines überkommenen Antijudaismus werden überwunden. Freilich seien, so Kessler, in Nostra aetate einige zentrale Themen noch nicht präsent, insbesondere fehle die Reflexion auf den Holocaust, aber auch die politische Dimension des Zionismus und des Staates Israel. Gleichwohl sind die theologischen Impulse aus Nostra aetate für den weiteren jüdisch-christlichen Dialog nicht zu überschätzen. Kessler fokussiert auf zwei Themen: In einer neu gewonnenen Bundestheologie firmiert die Rede vom »ungekündigten Bund« dezidiert und explizit als Antithese zur alten Lehre der Enterbung und Substitution. Bemerkenswert auch hier, dass Kessler über die Negativformulierung »un-gekündigt« hinaus zur Frage nach dem Positiven dessen einlädt, was Juden und Christen im Zeichen der Bundestreue Gottes gemeinsam verfolgen können. Im Geist gegenseitiger Anerkennung stehe für Juden wie für Christen die große Aufgabe des Tikkun Olam bereit, die Welt der Gerechtigkeit näherzubringen. Auch im Blick auf das zweite Thema Inkarnationschristologie zeigt sich Kessler dialogoffen. Er verweist auf strukturelle Analogien etwa zur rabbinischen Rede von der Schechina, der Einwohnung Gottes in d er Welt, oder auch der Präexistenz des Torawortes Gottes. Im Anschluss an Michael Wyschogrod kann Kessler durchaus eine Kompatibilität zwischen dem Inkarnationsgedanken und jüdischer Theologie anerkennen – vorausgesetzt, die christliche Lehre laufe nicht auf eine Entkräftung der göttlichen Verheißungen an Israel hinaus.
Johanna Rahner widmet sich in ihrem luziden Artikel »Die Kirche und das Judentum« in ihrer Weise dem »unabgegoltenen Potenzial von Nostra aetate«. Das Revolutionäre an Nostra aetate zeige sich an drei Grundimpulsen: Israel gehöre in die Wesensbeschreibung von Kirche hinein, also zum Geheimnis der Kirche selbst; sodann die Überzeugung vom ungekündigten, bleibenden Bund Gottes mit seinem Volk und drittens die Absage an jeglichen Antisemitismus. In ihrer Reformulierung dieser Grundgedanken rekurriert Rahner auf die ekklesiologisch relevante neue Wahrnehmung der Sündhaftigkeit der Kirche, auf den offenbarungstheologisch virulenten Perspektivenwechsel einer Hermeneutik der Hebräischen Bibel bzw. des »Ersten« Testaments sowie einer Würdigung jüdischer Identi-tät, die eine Korrektur des Missionsbegriffes verlangt. Eine sozusagen nach vorn offene, im besten Sinne wegeröffnende Version der »Bestandsaufnahme« der Implikationen von Nostra aetate liefert Roman Siebenrock im Modus eines fiktiven Essays über Fragmente aus einem »Archiv der Zukunft«. Ein Lesevergnügen der besonderen Art. Kreisend um die Grundoption, die nicht zuletzt auch den Gesamtho-rizont der Konzilserklärung umreißt: »Es gibt keinen Dialog der Kirche mit Menschen anderen Glaubens- oder anderer Weltanschauung mit dem Rücken zu Israel.« (149) Siebenrock ge­lingt ein Zu­kunftsbild mit unübersehbarer Gegenwartsrelevanz.
Die im Konzilsdokument avisierte Selbstreinigung der Kirche und ihrer Theologie impliziert »Blickwechsel«, so der Titel des folgenden Abschnitts (167 ff.). Zunächst lenkt Wolfgang Treitler den Blick auf einen »Klassiker« im christlich-jüdischen Dialog, die Frage nach der Messianität Jesu und die christliche Einsicht in das jüdische Nein zum Messias Jesus von Nazareth. Philipp Cunningham fokussiert sozusagen das christliche »Nos« in Nostra aetate, und Rainer Kampling schärft noch einmal den Blick auf den paulinischen zentralen Bezugstext in Römer 9-11.
Die Behandlung dreier Einzelthemen rundet den Band ab: Armin Lange rekurriert auf den Themenkomplex »Antisemitismus und das Neue Testament«, Bruno Forte greift noch einmal die Bundestheologie auf und Peter Ebenbauer widmet sich sehr feinfühlig dem Reflex auf jüdische Traditionen im neuen katholischen Gotteslob.
Dem Herausgeberteam gebührt ein hohes Lob für die Publikation eines Vademecums für Kirche und Kirchen, die sich im Geiste der christlich-jüdischen Verbundenheit zur Erneuerung gerufen wissen. »Erneuerung der Kirchen« – sie findet reichlich Orientierung in diesem Band.