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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

829–830

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Odenthal, Andreas

Titel/Untertitel:

Rituelle Erfahrung. Praktisch-theologische Konturen des christlichen Gottesdienstes.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2018. 236 S. m. 3 Abb. = Praktische Theologie heute 161. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-17-036138-6.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die Liturgiewissenschaft hat historische, systematische und praktisch-theologische Aspekte und in der Regel lassen sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und ihre Publikationen einem dieser Schwerpunkte zuordnen. Das gilt jedoch nicht von Andreas Odenthal, der nach seiner Zeit auf dem Tübinger Lehrstuhl seit 2018 katholische Liturgiewissenschaft in Bonn lehrt. Historisch in jeder Weise ausgewiesen und systematisch engagiert, vertritt er – schon durch seine psychoanalytische Qualifikation – eine praktisch-theologische Liturgiewissenschaft mit historischen und systematischen Referenzen. Schon der Titel des neuen Buches von O. weist auf sein spezifisches Profil hin: Das Historische, Systematische und Praktische steht im Zusammenhang einer praktisch-theologischen Hermeneutik. Nicht zu vergessen sind dabei die eingestreuten Miniaturen zum Introitus des Gründonnerstags ( Nos autem gloriari oportet, 59–65) und des Ostermontags (Introduxit vos Dominus, 181–185).
Der in dem Buch behandelte Gegenstand (das »Materialobjekt«) ist der christliche Gottesdienst, in der vertrauten Sprache des II.  Vatikanischen Konzils, der »Durchgang durch das Pascha Jesu Christi« (= Hauptteil B, 59–184); die Zugangsweise (das »Formalobjekt«) sind Fundamentaltheologie, Interdisziplinarität und vor allem die Freudsche Psychoanalyse (= Hauptteil A, 13–56). Am Schluss steht eine kurze zusammenfassende Betrachtung, in der der zurückgelegte Weg von der Theorie »zur Theologie rituel-ler Erfahrung« zusammengefasst (187–197) und »Konturen einer praktisch-theologischen Liturgiewissenschaft« gezeichnet werden (198–204); ein 25-seitiges Literaturverzeichnis, Abkürzungen und Register schließen sich an (205–236).
Sachlich schließt sich O. dem seit Ernst Lange immer wieder vertretenen Konzept (bzw. der Formel) der »Kommunikation des Evangeliums« an. Praktisch-theologisch wehrt er sich so gegen die Vorordnung des Inhalts vor dessen Präsentation. Die Spitzenthese findet sich in der knappen Formel im Schlussabschnitt: »Die rituelle Form ist bereits der Inhalt.« (199, dort kursiv); oder, wie es geradezu religionspädagogisch im Vorwort heißt: »Jede Theologie ist, zumindest vom Anspruch des Christentums, biographisch ge­prägt, und deshalb stehen zuerst wir selbst in Frage« (10).
Die Hauptthese von O. lautet: Rituelle Erfahrung ist die Realität eines dritten Raumes/Wirklichkeitsbereiches (»thirdspace«; 23–25. 66–73.194–197), die weder als der Erfahrung »objektiv« gegenüberstehend noch als im Erleben »subjektiv« aufgehend beschrieben werden kann, sondern die als etwas diese Unterscheidung zugleich Bewahrendes als auch diese über sich selbst Hinausführendes (also als etwas diese »Aufhebendes«) zu verstehen ist. Dieser dritte Raum soll darum zweckfrei sein wie das Spiel. Eine Art Basislegende für das Buch ist entsprechend das von S. Freud beschriebene Garnrollenspiel eines Kindes als spielerische Durcharbeitung der Ambivalenz der Abwesenheit der Mutter (S. Freud, Jenseits des Lustprinzips, 1920: 66–73 u. ö.).
An dieser Stelle meine ich allerdings, sollte man »Ritual« und »Spiel« noch genauer unterscheiden und Freuds positive Wertung des Symbolspiels nicht bruchlos auf die rituelle Kommunikation übertragen. Das Rituelle sah Freud m. E. deutlich kritischer, weil er es in der Regel mit Zwangsritualen in Verbindung brachte (zu 67 mit Anm. 7). Die »Wieder-Holung« des Garnrollenwurfes im Spiel ist etwas anderes als die ständige (»zwanghafte«) Wiederholung des gesamten Spiels. Die Letztere hielt Freud für ungut, die Erstere für symbolisch-spielerisch und kreativ. Aus dieser Unterscheidung ließe sich auch liturgisch etwas gewinnen: Der spielerisch wiederholende Zeichengebrauch ermöglicht Kreativität, die Fixierung auf festgelegte Zeichengestalten birgt ein psychisches – und rituelles – Gefahrenpotenzial.
Die Abwesenheit des geglaubten Herrn jedenfalls – und nicht (nur) seine Vergegenwärtigung durch Sakrament und Liturgie – bildet nach O. den Kern der rituellen Erfahrung in theologischer Hinsicht. Im Anschluss an den französischen Jesuiten Michel de Certeau (1925–1986) wird das »Gründungsverschwinden« (73–77), die Abwesenheit des gekreuzigten und auferstandenen Körpers des Herrn, zu jenem Ereignis, für das die Annahme eines »thirdspace« konstitutiv ist: »Im Fehlen Jesu liegt somit die tiefste Begründung allen liturgisch-sakramentlichen Tuns der Kirche.« (74, dort kursiv) Ortsverlust und Abwesenheit in psychoanalytischer und in theologischer Betrachtungsweise machen nach O. den Kern ritueller, gottesdienstlicher Erfahrung aus. Damit sucht er zugleich das Spezifikum allen christlichen Glaubens und Feierns zu umschreiben: »Gerade die Rituale des Christentums verweisen auf einen Gott, der nicht zuhanden ist. […] Im dritten Wirklichkeitsbereich zwischen nur innerem Glauben und nur äußerer Realität gerät genau die spezifisch sakramentliche Realität in den Blick« (79).
In evangelischer Perspektive wird man zu ergänzen haben, dass die von O. geschilderte Erfahrung des imaginär realen Raumes (»thirdspace«), also die zeichenhafte Realisierung des abwesend Anwesenden, nicht nur auf Ritual und Sakrament zu beziehen ist, sondern auf Wort und Sakrament als diejenigen Gestalten, in de-nen Glaubende die Zeichen der Welt auf Gott hin deuten, weil sie die Erfahrung machen, dass die Zeichen auf Gott deuten. Treffend heißt es entsprechend auch bei O., dass Zeichen und Ritual in der Liturgie »vorgefunden« werden, aber zugleich werde die Anwendung auf das eigene Leben »erfunden« (85). Gerade aus theolo-gischen Gründen ist die bloße Affirmation kirchlicher Realitäten verfehlt. Von diesen zu meinen, »sie seien selbst schon das Reich Gottes, ist nicht nur naiv, sondern bereits theologischer Verrat.« (138)
Darüber hinaus öffnet sich bei O. auch ein weiter Blick auf Kunst und Kultur (99–102 u. ö.), denn zum Symbol gehört »die subjektive Aneignung des rituellen Gefüges« (125). Dabei setzt der theologische Verzicht auf eine Leistung des Menschen vor Gott das rituelle Handeln voraus (155). Denn gerade der Habitus des Nicht-Handelns, so könnte man zusammenfassen, verlangt rituelle Kompetenz, Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Mühe. Nur in solchen Paradoxa kann das rituelle Handeln zureichend beschrieben werden. Von dem reflexhaften (pseudoprotestantischen) Vorwurf der »Werkgerechtigkeit« wird das alles nicht getroffen. Gerade das Passive verlangt und verdient alle Anstrengung – was man ja auch von guten und von schlechten Liturgien weiß.
Theologie und Psychoanalyse werden jedenfalls von O. »in einen Dialog gebracht, der keineswegs auf einen Konsens ausgerichtet ist, sondern vielmehr einen Konvergenzpunkt zum Ziel hat, nämlich die Frage der Befreiung des Menschen, die theologisch als Erlösung, psychoanalytisch als Subjektwerdung zu konturieren ist.« (189)
O. hat ein material- und gedankenreiches, ritualtheoretisches, liturgisches und praktisch-theologisches Werk geschrieben, das zudem gut zu verstehen ist. Ein hilfreiches didaktisches Merkmal des vorliegenden Buches besteht in den kurzen Zwischenzusammenfassungen am Schluss jedes Abschnitts. Hier werden in wenigen Punkten, optisch gut erkennbar in einem Kasten, die zuvor entfalteten Gedanken noch einmal in aller Kürze geboten. So kann man sich auch einen schnellen Überblick zum Inhalt des Buches verschaffen, indem man diese Thesen zur Kenntnis nimmt.