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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

827–828

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kurschus, Annette, u. Dieter Beese [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Pfarrdienst in der Dienstgemeinschaft der Kirche. Wissenschaft und Kirche im Dialog.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2018. 270 S. Geb. EUR 9,95. ISBN 978-3-7858-0746-0.

Rezensent:

Frank Weyen

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Klessmann, Michael: Pastoralpsychologische Perspektiven in der Seelsorge. Grenzgänge zwischen Theologie und Psychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. 268 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-7887-3219-6.


Michael Klessmann prägte nicht nur Generationen von Seelsorgern und Seelsorgerinnen als Lehrsupervisor der DGfP und Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel, sondern nahm insbesondere auch mit einer Vielzahl fachwissenschaftlicher Publikationen Einfluss auf die Entwicklung der Seelsorgelehre selbst. Man darf ihn mit Fug und Recht zu einem der erfahrensten und prominentesten Poimeniker und Pastoralpsychologen der Gegenwart zählen. Mit seinem 2017 erschienenen Sammelband macht K. 15 seiner bisher unveröffentlichten Vor-träge einem breiteren Publikum erstmals zugänglich. Die enorme Breite der Themen, die K. behandelt, umfassen Angst, Depression, Schuld und Gewissen, Psychomarkt, Abschied und Neubeginn, Sterben und Tod, aber auch besondere Orte der Seelsorge wie Krankenhaus, Gefängnis und Kirchengemeinde, und sogar religionspsychologische Fragen wie jene nach den salutogenen und pathogenen Wirkungen von Religiosität. Seine tiefe Überzeugung, die auch in den verschiedenen Vorträgen in der einen oder anderen Weise wiederkehrend zum Ausdruck kommt, fasst K. so zusammen:
»Pastoralpsychologisch orientierte Seelsorge ist eine, die das Geschehen der Seelsorge zusätzlich zu einem theologischen Grundverständnis mit Hilfe von psychologischen oder sozialpsychologischen Erkenntnissen und Methoden besser und vertieft zu verstehen und zu praktizieren sucht. Die Theologie, die ein/e Pfarrer/in im Studium gelernt hat, reicht nicht für die Praxis der Seelsorge, finde ich – und auch der gesunde Menschenverstand langt nicht. [...] Man sollte sich mit der eigenen Person und Biographie intensiv auseinandergesetzt haben.« (28)
Diese intensive Auseinandersetzung mit sich selbst als Voraussetzung für eine seelsorgliche Tätigkeit ist sehr aufwändig und kontrastiert mit der Haltung, die in der Seelsorge den Menschen gegenüber eingenommen wird; diese nämlich sollen sich weder verändern noch irgendwelche Probleme lösen müssen, sondern dürfen einfach so bleiben, wie sie sind. Seelsorger unterstehen, so K., im Gegensatz zu Psychotherapeuten keinem »Erfolgs- und Effizienzdruck«.
Was die gesammelten Beiträge K.s auszeichnet, ist das intensive und unerschrockene Bemühen um Verstehen. Was damit gemeint ist, zeigt sich besonders schön am Beitrag über das Verhältnis von Wahn und Glauben/Religion. Im Zentrum steht das erkenntnisleitende Interesse K.s, der selber lange Jahre in der Psychiatrieseelsorge in Bethel tätig war, auch psychotischen Phänomenen die Möglichkeit einzuräumen, nicht nur irrational und krankhaft zu sein, sondern einen Sinn zu ergeben, den man verstehen kann. Der Wahn ist gleichsam der »ältere Bruder« des Glaubens und nicht von vornherein von diesem klar zu trennen. K. geht es zunächst um die innere Nähe bzw. um Analogien zwischen den beiden, die sich in der »Erschließung von Sinn im Leben« treffen. Gelänge es, psychotische Erscheinungen auch als mögliche Ressourcen zu begreifen, mit denen sich Menschen einen Reim auf ihr Erleben machen und eigene Bedeutungswelten zur Verarbeitung schaffen, so nähme man – dies das Hauptanliegen von K. – Menschen sehr viel ernster, als dies in der Wahrnehmung defizitorientierter und abwertender medizi nischer Diagnosen geschieht. Gerade angesichts der fließenden Übergänge zwischen psychotischen und religiösen Phänomenen ergibt sich für die Seelsorge »Respekt und Bewunderung für die Vielfalt der Ausdrucksformen des Glaubens«. Seelsorger halten nach K. das Chaotische aus, ohne dem Drang zu verfallen, ordnend eingreifen zu wollen. Angesichts des Umstands, dass religiöse Symbole und Themata im Wahn selbst oft erscheinen, können in der Seelsorge Gespräche über biblische Texte und darüber, wie eine Person ihre Bilder und Zeichen versteht, sinnvoll sein. Normalisierung der Beziehung heißt dann, sich offen und einfühlsam nach dem Verständnis des Gegenübers zu erkundigen. Analog zum Versuch, Träume nicht von vornherein als irrational und unsinnig abzuwerten, sondern ihren Sinn zu verstehen zu suchen, soll der Umgang mit psychotisch-wahnhaften Vorstellungen gemäß K. primär interessegeleitet und nicht angst- und abwehrdominiert sein.
Wenn K. – inzwischen emeritiert und 75-jährig – in seinem Vorwort festhält, die Seelsorge habe »trotz gelegentlicher gegenteiliger Beteuerungen von offizieller Seite – nur eine schwache Lobby in den Kirchen«, so ist darin mehr als bloß eine Spur Wehmut zu vernehmen; es klingt enttäuscht. Derselbe Befund wie für die Seelsorge kann auch für die Pastoralpsychologie erhoben werden. K. versuchte, das von ihm als »Engführung« bezeichnete Verständnis von Pastoralpsychologie »als die psychologische Fundierung von Seelsorge« in seinem 700 Seiten umfassenden Lehrbuch zur Pastoralpsychologie, das 2014 in der fünften Auflage erschienen ist, zu überwinden, indem er ihre Relevanz für verschiedenste Bereiche der Praktischen Theologie von den Kasualien bis zur Diakonie aufzeigte. Damit wird ein Erkenntnisanspruch geltend gemacht, durch den die Pastoralpsychologie auch auf außerkirchliche bzw. religiöse Praxis überhaupt übertragen werden kann. Die Pastoralpsychologie soll von einer praktisch-theologischen Subdisziplin zu einer »Grunddimension der Praktischen Theologie« bzw. »der Theologie überhaupt« werden. Dieser spezifische, die Seelsorge und Kirche weit übersteigende Zugang zu Theologie und Religion insgesamt ist programmatisch. Dieses Programm scheint jedoch bisher nicht von dem erhofften Erfolg gekrönt zu sein.
Nun ist die Psychologie der Pastoralpsychologie über weite Strecken (und nicht nur aus historischen, sondern auch aus theologischen Gründen) psychoanalytisch geprägt und deshalb meilenweit von der akademisch-wissenschaftlichen Psychologie entfernt. Letztere hat sich klar als empirische und an den Naturwissenschaften orientierte Disziplin aufgestellt und den Bezug zu ihren geisteswissenschaftlichen Wurzeln fast ganz verloren. Die Pastoralpsychologie rekurriert jedoch nach wie vor gerne auf psychodynamische Konzepte und rezipiert kaum quantitative kognitiv-verhaltenstherapeutische Studien, da diese für sie in methodischer Hinsicht kaum verständlich und mit ihren eigenen anthropologisch-theologischen Prämissen schwer kompatibel sind. Dies mag mit ein Grund für das erwähnte Ausbleiben des ersehnten Erfolgs sein.
Was uns in dieser Vortragssammlung K.s vorliegt, sind pastoralpsychologische Perlen. Und doch haben sie – so sei ebenfalls wehmütig und auch leicht enttäuscht festgehalten – kaum mehr eine Lobby in der Praktischen Theologie.

BernIsabelle Noth




Zum Pfarrberuf in der »Dienstgemeinschaft der Kirche« haben Präses Annette Kurschus und OKR i. R. Dieter Beese mit diesem Band die Zusammenfassung eines akademischen Symposiums herausgegeben, das im Dezember 2017 im Rahmen des landeskirchlichen Konsultationsprozesses zum Pfarrberuf in der Evangelischen Kirche von Westfalen den »Personalbericht für die Landessynode 2015« (8) wissenschaftlich beleuchten sollte. Er enthält Aspekte, die die westfälische Problemlage für den Pfarrberuf auch für andere Landeskirchen interessant machen könnten.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Während zunächst aus wissenschaftlicher Sicht fünf westfälische Stimmen zur Personalpolitik und Personalauswahl in Westfalen Stellung nehmen, so sind es im zweiten (Haupt-)Teil 23 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum. Der abschließende dritte Teil fasst einerseits die Ergebnisse des Symposiums zusammen und will Konsequenzen für den Pfarrberuf in Westfalen und die Personalauswahl treffen. Dabei geht es in fünf Rahmenthemen zunächst um Möglichkeiten und Anforderungen landeskirchlicher Personalpolitik, Personalauswahl im Spiegel des evangelischen Bildungsverständnisses, dies im Horizont der sozialen Gestalt der Kirche samt Priestertum aller Getauften im Rahmen der kirchlichen Dienstgemeinschaft und auch um ökumenische Perspektiven (15).
Dem künftigen Personalmangel abzuhelfen sucht Sigrid Graumann mit Hilfe der Verteilung bisher pfarramtlicher Aufgaben, außer der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung, diese durch weitere kirchliche Berufsgruppen wie Diakone, Gemeinde-, Sozial- oder Heilpädagogen, wahrnehmen zu lassen (21 f.). Einen Blick auf die Transformation kirchlicher Berufe sieht Antje Roggenkamp, da die traditionellen Zugangswege zum Pfarramt unter der Generation-Y nicht mehr länger automatisch beschritten werden. Oftmals treten auch Quereinsteiger im späteren Berufsleben hinzu (29.31). Hier ist nach Roggenkamp an Religionslehrer ebenso zu denken wie an Diakone. Die für die nachwachsenden Generationen, im Gegensatz zu den Babyboomern, problematische Residenzpflicht der (gesamten) Pfarrfamilie avanciere in diesem Zusammenhang nun zu einem Hindernis für den Fortbestand des bisherigen Pfarramtes. Hier die Erosion von Gemeindegliedern durch den fehlenden Vor-Ort-Bezug von Pfarrpersonen, dort die grundrechtlich verbrieften Freiheitswünsche der jüngsten Generation für die eigene Le­bensgestaltung und Wohnsitzwahl. Diese Spannung habe der Personalbericht nicht aufgelöst (33). »Geht es nur um die Fortführung bestehender Arbeitsprozesse oder nicht auch um die Transformation bestehender (Diskus-)Räume?« (36), fragt Roggenkamp. Die wis senschaftliche Begründung des theologischen Pfarramtes sehen Traugott Jähnichen und Henning Wrogemann mit dem Hinweis: »Das pfarramtliche Handeln wird durch eine ›Zweitstruktur‹ von Mitarbeitenden aus anderen Bereichen […] ergänzt« (44). Hierbei stehen vor allem humanwissenschaftliche Kompetenzen im Vordergrund. Ralf Hoburg sieht in der »Generation 17plus« vor allem das Abbild gesellschaftlicher Realitäten, da die Berufswahl stets Modewellen unterliege (124). Die westfälische Momentaufnahme im Abi-Jahrgang 2013/14 verdecke, dass die Maturität künftig wieder abnehmen werde (125). »Die Studierendenlandschaft und die Gruppe der Studieninteressierten setzt sich deutlicher als noch vor 25 Jahren aus sogenannten kleinbürgerlichen Milieus zusammen und zählt vermutlich nicht zur ›akademischen Leistungselite‹ eines jeweiligen Abiturjahrganges.« (126) Daher zeige der landeskirchliche Perso-nalbericht auch eine »gefährliche Binnenorientierung« (126). Denn Alternativen geraten so aus dem Blick. Eine Ordination von Prädikanten und Praktikantinnen werde zur Deprofessionalisierung des Pfarrberufes beitragen. Hier sei der Blick nach außen zu richten und den Diakonen und Diakoninnen mit genuin theologischer Ausbildung das Arbeitsfeld Pfarramt zu eröffnen. (128.127) Zudem sei das kirchliche Dienstrecht nicht mehr zeitgemäß, da es der Wertschätzung des Personals im Wege stehe. »Wertschätzender und würdiger Umgang mit Personal sei die beste ›Unternehmenswerbung‹« (130). Beate Hofmann fordert in diesem diakonischen Fokus über die Vielfalt kirchlicher Gemeindeformen und Arbeitsweisen nachzudenken, um der Milieuverengung von Kirche entgegenzuwirken (134). Dabei legt sie gemeinsam mit Ralf Homann und Sigrid Graumann das Gewicht auf die Verknüpfung des Pfarrberufes mit anderen kirchlichen Berufszweigen und fragt: »Gibt es ein Gesamtkonzept für die Wahrnehmung unterschiedlicher kirchlicher Arbeitsfelder und für das Zusammenspiel der unterschiedlichen beruflichen Kompetenzen, das mit den Herausforderungen einer ausdifferenzierten und diverser werdenden Gesellschaft verbunden ist?« (135) Das Festhalten an der Parochie als primärer Organisationsform von Kirche vor Ort verstärke nach Hofmann die »Enttheologisierung bzw. Säkularisierung der Diakonie« (136). Abschließend bietet Harald Schröter-Wittke Anhaltspunkte für eine abnehmende Attraktivität des Pfarrberufes in der Generation 17plus. Hier nennt er Faktoren wie die Familienfreundlichkeit mit voremanzipatorischer Residenzpflicht für Pfarrfamilien samt behinderter Work-Life-Balance in Beruf, Familie und Privatleben. »[…] das reicht von der öffentlichen Anerkennung bis hin zur Bezahlung […]« (189).
Gänzlich ausgeklammert bleiben in der Diskussion allerdings zwei entscheidende Faktoren, die elementar mit der Attraktivität des Pfarrberufes in Beziehung stehen. Einerseits die Frage der Entkoppelung von der Tarifstruktur aller Landeskirchen innerhalb der EKD, da in Westfalen, gegenüber dem Rheinland, der Landesbeamtentarif NRW, statt der Bundesbesoldungsordnung, zugrunde gelegt wird, und auch die Durchstufung nach A 14 gekappt worden ist. Gleichzeitig liegt in Westfalen die Dienstwohnungsvergütung im Vergleich zur EKiR um rund 200 EURO höher. Die fehlende angemessene Besoldung wird andererseits dann zu einem Problem, wenn gleichzeitig gegenüber den nachwachsenden Theologengenerationen 17plus auf die Beibehaltung der voremanzipatorischen Residenzpflicht für die Pfarrfamilie rekurriert wird. Alexander Deeg (79), Christian Grethlein (104), Henning Wrogemann (53) und Harald Schröter-Wittke (189) verweisen daher besonders auf die gegenüber der »Generation-Y« in dieser Hinsicht wenig attraktiven Rahmenbedingungen für einen auch künftig eher voremanzipatorisch-traditionell ausgerichteten Pfarrberuf, was zudem für die späten Babyboomer zu einem Ungleichgewicht im Anspruch auf eine angemessene und standesgemäße Besoldung gegenüber den Kollegen benachbarter Landeskirchen führt.
Der Sammelband gibt einen guten, zuweilen kritischen Überblick über »westfälisch Hausgemachtes« und bietet auch für alle anderen EKD-Landeskirchen Hinweise darauf, wie man es möglicherweise besser machen könnte. Jedenfalls liefern die wissenschaftlichen Expertisen hierfür wichtige Anhaltspunkte.