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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

797–799

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mutschler, Hans-Dieter

Titel/Untertitel:

Bewusstsein. Was ist das?

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 256 S. = Forum Theologische Literaturzeitung, 34. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-374-05565-4.

Rezensent:

Dirk Evers

Der Zürcher Philosoph Hans-Dieter Mutschler hat in der Reihe Forum Theologische Literaturzeitung einen Band zum Thema Bewusstsein vorgelegt, einem nach M.s eigener Aussage »merkwürdigen« Phänomen, dessen Sperrigkeit vor allem vor dem Hintergrund dessen, was man als modernes naturwissenschaftliches Weltbild bezeichnen kann, deutlich hervortritt. Insofern ist denn auch M. in besonderer Weise dazu berufen sich dieses Phänomens anzunehmen, da er wie kaum jemand anderes in der deutschen Philosophie sich mit ebenden Ansprüchen und Herausforderungen naturwissenschaftlichen Denkens für eine nicht-reduktionis-tische und im Übrigen auch religionsoffene Philosophie auseinandergesetzt hat. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Auch M. p räsentiert keine »Lösung« des Bewusstseinsproblems, also eine alternativlose, wissenschaftlich-philosophische Erklärung des merkwürdigen Phänomens. Er deutet allerdings an, dass eben-dieses Resultat sachlich insofern angemessen sein könnte, als das Bewusstsein das Medium ist, in dem wir alles verstehen, das selbst aber gerade darin unsichtbar und schwer zu fassen bleibt.
Trotz, oder besser gerade wegen dieses auch methodisch in Anschlag zu bringenden Vorbehalts ist die Beschäftigung mit der Frage nach der Natur und der Struktur des Bewusstseins alles andere als vergebliche Mühe, wie das Büchlein von M. eindrucksvoll vor Augen führt. Sie führt vielmehr mitten hinein in zentrale epistemologische und metaphysische Fragestellungen, die die Philosophie seit jeher umtreiben, die aber auch für die Aufspreizung der Philosophie in verschiedene, oft nur mäßig kompatible Denkprojekte verantwortlich sind. M. geht in seiner Studie so vor, dass er vier verschiedene Schulen und ihr Verständnis des Bewusstseins vorstellt, im Allgemeinen durch die Darstellung exemplarischer Vertreter dieser Schulen. Das Buch setzt ein mit dem Naturalismus, bei dem M. die empirisch verfahrenden Neurowissenschaften von einem spekulativen philosophischen Naturalismus unterscheidet. Insofern ein empirischer Naturalismus methodisch aufgeklärt ar­beitet, nimmt er für sich nicht in Anspruch, subjektive Erfahrung und Bewusstsein mit Hilfe physikalischer Kategorien zu erklären und also phänomenologische Kategorien in empirische Zusammenhänge aufzulösen. Wo dies geschieht, findet der Überschritt zum spekulativen Naturalismus statt, den M. anhand der Positionen von Dennett, Metzinger, Carruthers sowie Vertretern eines Protopanpsychismus (Nagel, Chalmers) darstellt. Als Fazit hält er fest, dass man den Referenzrahmen des Naturalismus aufgeben muss, will man überhaupt in der Lage sein, das Phänomen des Be­wusstseins in den Blick zu bekommen.
Damit geht M. zur Schule der Sprachphilosophie über. Hier behandelt er die Positionen von Wittgenstein, Strawson, Tugendhat und Hacker. Alle verfolgen nach seiner Darstellung eine anti-phänomenologische Strategie, die Bewusstsein in Formen des Ausdrucks transformiert, und zwar vornehmlich auf sprachlich-semantischer Ebene. Auch wenn M. einige Sympathie für diese Po­sitionen hat, so sieht er ihren vornehmlichen Nachteil in ihrer Ontologievergessenheit, mit der alles Mentale in Semantik verwandelt wird. Das zentrale Defizit liegt damit in der fehlenden Erklärung des Woher des Bewusstseins, das nach M. zwar immer als durch soziale und sprachliche Prozesse geformt, nicht aber als durch sie entstanden zu verstehen ist. Aus Nicht-Bewusstsein kann nicht Bewusstsein werden, so dass auch die Innerlichkeit nicht vollständig in Äußerungsprozesse aufgelöst werden kann. Es bleibt ein phänomenologischer Rest, an dem dann die zweite Schule ansetzt, die M. darstellt, die Phänomenologie. Hier nimmt Husserl den breitesten Raum ein, auf ihn folgen dann die leibphänomenologischen Ansätze von Merleau-Ponty, Waldenfels und Rehmann-Sutter. Husserl ist überhaupt der Protagonist, dem an Seitenzahlen (50!) der größte Raum in der Darstellung zugestanden wird. M. stellt Husserls Bewusstseinstheorie vor allem am Leitbegriff der Intentionalität und dann auch recht verästelt in ihren daraus folgenden Ableitungen des Zeitbewusstseins und einer phänomenologischen Ontologie des Wesens dar und tritt in das Gespräch mit allerlei Husserl-Interpretationen ein. Leider geschieht das ohne gliedernde Zwischenüberschriften, so dass man sich mitunter in den Exkursen und Seitenlinien der Darstellung etwas verliert. Als Fazit hält M. fest, dass es sich bei Husserl um den heroischen Versuch einer Neubegründung der Bewusstseinsphilosophie aus dem Innenraum des Bewusstseins handelte, dieser aber letztlich daran scheiterte, dass von dort aus kein Weg zur Sozialität oder zur Natur und den empirischen Perspektiven auf sie führt. Husserls Nachfolger haben denn auch seine Philosophie sehr eklektisch weitergeführt, wie M. anhand der Leibphilosophie verdeutlicht, die das Subjekt mit seinem Bewusstsein über die Kategorie des Leibes und der Begegnung als mit dem Weltprozess verflochten versteht. Doch auch hier gilt, dass ein doppeltes Defizit bleibt: Ein eigenständiges, mit sich selbst identisches Ichbewusstsein geht ebenso verloren wie ein klarer, Mensch und Welt differenzierender Zugang zu Na­tur und Naturwissenschaften.
Den ersten Punkt zumindest sieht M. neu in den Blick kommen mit der Bewusstseinsphilosophie und ihrem Rückgriff auf den deutschen Idealismus, der der vierte Teil des Bandes gewidmet ist. Nacheinander werden Rohs, Wolfgang Cramer, Henrich und Frank vorgestellt, mit deutlicher Sympathie für die beiden Letztgenannten. Zentral ist für diese Schule der Ansatz bei der nicht-egologischen Struktur eines präreflexiven Bewusstseins, das als unhintergehbar zu gelten hat und von dem aus sich erst der Weltzugang des Bewusstseins rekonstruieren lässt. M. unterscheidet bei Henrich dabei zwei Bewegungen des Weltbezugs, die objektivierende Kosmologie, die zur Naturwissenschaft führt, und die spekulative Metaphysik, die das Einzelne mit dem Allgemeinen, das Bewusstsein mit dem Prozess des Ganzen zu vermitteln sucht. Beide aber gründen in der dem Bewusstsein eigentümlichen Fähigkeit zur Distanznahme. Die Darstellung der Bewusstseinsphilosophie ist im Übrigen durchsetzt mit klugen und anregenden Exkursen zur Auseinandersetzung dieser Schule mit mehr sozialtheoretischen Bewusstseinsauffassungen wie der von Habermas.
Da beim Nachdenken über Bewusstsein immer auch eine religiöse Komponente mitschwingt, ja Religion selbst mitunter als bestimmte Zustandsform des Bewusstseins erscheint, folgt noch ein kurzer Abschnitt zu Transzendenzkonzeptionen, in dem zunächst mystische und östliche Auffassungen des Bewusstseins zusammen mit ihren Kritikern kurz skizziert und von westlichen Denkweisen abgesetzt werden. Darauf folgen einige wenige theologische Positionen westlicher Theologie, die letztlich auf Personalität setzen bzw. setzen müssen, wenn sie die ihnen eigentümliche Kategorie der Offenbarung nicht verlieren wollen. Den Schluss des Bandes bildet ein kurzes Fazit, das noch einmal feststellt, dass von einer Erklärung dessen, was es denn mit dem Bewusstsein auf sich hat, keine Rede sein kann. Allerdings konstatiert M., dass mit Ausn ahme des spekulativen Naturalismus, der gewissermaßen das Thema verfehlt, alle anderen Positionen den ›Gegenstand‹ Be­wusstsein irgendwie treffen und als verschiedene Ansichten desselben Sachverhaltes gelten können, ohne dass sich darin schon Konvergenzen oder gar die eine Theorie des Bewusstseins melden würden.
Insgesamt hat M. eine hervorragende Einführung in die Be­wusstseinsphilosophie vorgelegt, die allen Studierenden der Philosophie, Religionsphilosophie und auch der Theologie große Diens-te leisten kann, indem sie einen klaren und abgewogenen Überblick über die wesentlichen Positionen, Fragestellungen, Leitkonzepte und blinden Flecke bietet, und das in klarer Sprache und Argumentation. Allenfalls ein Namenregister hätte dem Band noch gutgetan, da manche Auseinandersetzung, wie etwa die mit Habermas oder Zahavi, sich im Inhaltsverzeichnis nicht abbildet.