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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

795–796

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kühnlein, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophie und Religionskritik. Ein Handbuch.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2018. 946 S. = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2140. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-518-29740-7.

Rezensent:

Martin Hailer

Der Tenor der Einleitung macht verständlich, warum der Titel des Bandes explizit sowohl Religionsphilosophie als auch -kritik nennt. Der Herausgeber stellt fest, »dass die Religion ihre alten Bedeutungsclaims wieder schnell für sich reklamieren möchte«, was bei manchen Vertretern aber »in einen kruden religiösen Triumphalismus« umschlagen würde (11). Dagegen gelte es, »die se­mantischen Ressourcen der Religion vernünftig« einzuschätzen (ebd.). Das sind rasche und weitgehende Feststellungen, bei denen mindestens der Singular »die Religion« erklärungsbedürftig ist, was der Herausgeber aber ausweislich einer nur zweieinhalb Seiten langen Einleitung offenbar nicht für nötig hielt.
Der Band präsentiert sodann auf über 900 Seiten Darstellungen von 80 Hauptwerken der Religionsphilosophie von Platon bis Charles Taylor aus der Feder von 52 Autorinnen und Autoren. Die Beiträge sind identisch aufgebaut: Auf eine biographische Miniatur folgt in »I. Kontexte« eine Einordnung der vorzustellenden Schrift ins Werk des Autors und in die diskursive Situation seiner Entstehungszeit. »II. Werk« stellt die jeweilige Schrift vor. Die Länge dieser Berichte variiert von rund fünf bis gut 15 Seiten, wobei die meisten Berichte zwischen sechs und acht Seiten umfassen. »III. Rezeption und Kritik« bietet Einblicke in die Aufnahme des Werks und die durch es angestoßene Debatte. Mitunter werden hier auch Forschungsdesiderate benannt. Nach »IV. Zusammenfassung« folgen Hinweise auf Quellen und ausgesuchte Sekundärliteratur.
Dieser Aufbau lässt von ferne an die Schwesterwerke Lexikon der philosophischen/der theologischen Werke (Volpi/Nida-Rümelin 1988, Eckert u. a. 2003) denken, die jedoch jeweils mehr als zehnmal so viele Werke in extrem konzentrierten Referaten vorstellen. Beim vorliegenden Band nun ist der Fokus enger, die einführenden Informationen sind aber entsprechend ausführlicher und diskur-siver.
Es werden fast durchweg hochstufige Beiträge zur Religionsphilosophie vorgestellt. Der Fokus liegt deutlich auf der Gegenwart: 47 der 80 vorgestellten Werke sind im 20. und 21. Jh. erschienen. Der Herausgeber hat gewiss recht, wenn er sagt, dass er im Kampf um die richtige Auswahl nur unterliegen könne (12), so dass die beckmesserischen Hinweise, was denn nun alles fehle, unangemessen sind. Im Überblick: Platon (Nomoi), Aristoteles, Plotin und Augustin vertreten die Antike, im Mittelalter fehlen neben christlichen Autoren al-Ghazali, Averroes und Maimonides (Wegweiser der Verwirrten) nicht. Als Klassiker der europäischen Religionskritik kommen Giordano Bruno, Rousseau, Hume, Feuerbach und Nietzsche zur Sprache. Hier kann man fragen, warum mit Humes »Dialogen über die natürliche Religion« das gegenüber der »Naturgeschichte der Religion« schwächere Werk ausgewählt wurde (252) und ob Nietzsches »Antichrist« wirklich sein bleibendes Wort zur Religionskritik ist. Es mag, was zur Begründung angeführt wird, sehr bekannt sein (405), aber auch und gerade einen anerkannt schwierigen Gesprächspartner ehrt man doch wohl durch Konzentration auf sein bestes und nicht auf sein lautestes Wort. Neben den Kritikern werden zentrale Werke u. a. von Leibniz, Mendelssohn, Kant, Hegel und Schelling präsentiert.
Bei der dann ausführlich werdenden Auswahl im 20. Jh. und der Gegenwart ist vor allem die Bandbreite der beteiligten Disziplinen zu würdigen. Neben der Philosophie im engeren Sinne sind das Soziologie (Durkheim, Weber, Scheler, P. L. Berger, Luhmann), Politikwissenschaft (Schmitt), Psychoanalyse (Freud), Theologie (Metz, Moltmann, Rahner, Stein) und Kulturtheorie (Assmann). Auch Richard Dawkins darf nicht fehlen, wobei sein Präsentator Klaus-Jürgen Grün dem »Gotteswahn« argumentativ etwas abgewinnen kann (885–893). Aus der Philosophie sind viele Schulen vertreten, darunter jüdisches Denken (Cohen, Rosenzweig, Levinas), französische Phänomenologie (Marion, jedoch nicht Henry) und neuere analytische Philosophie (Plantinga). Wittgenstein und seine religionsphilosophischen Rezipienten finden keine Berücksichtigung. Angemessen ist es gewiss, mit Charles Taylors Großwerk »Ein säkulares Zeitalter« zu schließen.
Dass man die eine und die andere Präsentation anders anlegen kann, als es geschah, ist eine banale Erkenntnis. Hinzuweisen ist deshalb in notwendig willkürlicher Auswahl auf besonders Gelungenes: Thomas Leinkaufs Bericht über Plotins Enneade V.1 ist mustergültig klar, systematisch geschlossen und enthält zugleich Verweise auf die großen Diskussionslinien (45–63). Georg Zenkert zeichnet die dialektische Bewegtheit des Denkens in Hegels »Phänomenologie des Geis-tes« auf eindrucksvolle Weise nach und betont zugleich die religionskritische Pointe, dass der Wahrheitsgehalt der Religion auf die Philosophie übergegangen sei. Michael Welker erstellt ein meisterliches Kurzporträt der »Theologie der Hoffnung« seines Lehrers Jürgen Moltmann (663–673) und der Herausgeber selbst geht mit seinen anregenden Ausführungen zu Jürgen Habermas’ »Zwischen Naturalismus und Religion« fast über die Grenze der Konstruktion seines Handbuchs hinaus: Die Bemerkungen zu Rezeption und Kritik sind länger als die Darstellung des Werkes selbst und führen direkt in die fortdauernde Diskussion hinein (862–873).
Leider hat das Buch keine Register, was seinen Gebrauchswert schmälert. Dass es vom 2018 verstorbenen Karl Kardinal Lehmann maßgeblich finanziert und konzeptionell beraten wurde, ist zu erwähnen.
Es dürfte sich um ein Arbeitsbuch für diejenigen handeln, die sich aufgrund anderer Informationen für die nähere Befassung mit dem einen oder anderen (modernen) Klassiker entschieden haben und nun nähere Informationen suchen bzw. evtl. verblasste Lektüren auffrischen wollen. Den Gebrauch von Lexika und Überblickswerken sowie die Lektüre der Originale ersetzt es nicht, wird sie aber auf fruchtbare Weise ergänzen.