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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

781–783

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gleiß, Friedhelm

Titel/Untertitel:

Die Weimarer Disputation von 1560. Theologische Konsenssuche und Konfessionspolitik Johann Friedrich des Mittleren.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 344 S. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 34. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-05433-6.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Diese Hochschulschrift von Friedhelm Gleiß wurde 2017 an der Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz als Dissertation angenommen. Sie setzt sich mit einem wichtigen Abschnitt der theologischen Lehrentwicklung der zweiten Hälfte des 16. Jh.s – nach dem Tode Luthers – auseinander. Sahen sich die »ernestinischen« Theologen, die Gnesiolutheraner, unter Führung von Matthias Flacius Illyricus an der Universität Jena im Bezug zur Rechtfertigungslehre und aufgrund ihrer Position zum freien Willen als die wahren Erben Luthers, so bewegten sich die »albertinischen« Theologen der Universität Wittenberg, die Philippisten, unter Führung von Philipp Melanchthon nach deren Auffassung in Bezug auf diese Kernstücke reformatorischer Theologie ein Stück weit von Luther weg. Melanchthon wendete sich wieder Aristoteles zu und verließ damit die Position Luthers, der die Philosophie in Abgrenzung gegen die Scholastik als Feind der Theologie bezeichnete. Es entstanden sowohl anthropologisch als auch soteriologisch Differenzen, die in der Person des Theologieprofessors Victorin Strigel auch in der Universität Jena wirksam wurden und damit den um die Bewahrung des Erbes Luthers und um einen einheitlichen Glauben in seinem Gebiet bemühten Herzog Johann Friedrich den Mittleren beunruhigen mussten. Der Streit der Hauptkontrahenten Flacius und Strigel wurde so zum Politikum.
G. stellt in seiner Monographie nach Darstellung des historischen Hintergrunds, des Forschungsstandes, der Untersuchungsmethoden sowie der relativ guten Quellenlage – wobei es ein Verdienst G.s ist, bisher wenig beachtete, vor allem handschriftliche Quellen herangezogen zu haben – zunächst den äußeren Verlauf des Streits zwischen Strigel und Flacius im Kontext der Konfessionspolitik des Herzogs dar. Der Zielsetzung der Arbeit entsprechend – siehe den Untertitel der Monographie – umfasst dieser Teil II die Hälfte der Studie, die andere Hälfte, Teil III, vertieft die theologische Darstellung, indem sie die Inhalte der Disputation als entscheidende Etappe im synergistischen Streit analysiert. Umrahmt werden die beiden zentralen Abschnitte von der erwähnten Einführung I sowie dem Schluss IV. Die akribische Auswertung der Quellen, die im lateinischen Original ausführlich vor allem in den Fußnoten zitiert werden, führt dazu, dass es in den beiden zentralen Teilen nicht selten zu gedanklichen Wiederholungen kommt, hier und da mit leichten Nuancierungen. Auch der Schluss wiederholt das eine oder andere, was schon in der den III. Teil abschließenden Zusammenfassung ausgeführt wurde. Der Streit der Theologen begann in den Jahren 1557–1559.
G. schildert die Entwicklung in Jena, indem er zunächst auf beide Personen Strigel und Flacius eingeht, Informationen zu deren Biographie und ihrer Anstellung an der Universität Jena gibt. Interessant dabei ist, dass Strigel und seine Parteigänger Schnepf und Hügel bereits früh den später dazugekommenen Flacius beargwöhnten und in ihm eine Gefahr für die Einigkeit an der Universität sahen. Interessant ist auch die Parallele, die G. zwischen Strigel zu Melanchthon zieht, die beide auch an der Artistenfakultät wirkten, was die später beschriebene Differenz der Hauptkontrahenten in Bezug auf die Verwendung philosophischer Begriffe wie Substanz und Akzidenz zur Bestimmung der Qualität des Be­griffs »Erbsünde« umso plausibler macht, ebenso, dass sich Strigel in seiner Beweisführung auf philosophische Traditionen bezog, während Flacius Treue zu Luther durch alleinigen Bezug zur Heiligen Schrift beanspruchte. Auch von Strigel verlangte Flacius stets Schriftbelege für seine Argumente. Eine wichtige Etappe in der nicht zuletzt durch persönliche Konkurrenz geprägten Auseinandersetzung stellte der Streit um das Weimarer Konfutationsbuch dar, mit dessen Abfassung Strigel beauftragt war und dessen Entwurf von Flacius, der die Mehrheit der ernestinischen Theologen auf seine Seite ziehen konnte, so verändert wurde, dass Strigel nicht zustimmen konnte, was ihm ein Publikationsverbot und schließlich seine Inhaftierung einbrachte. In Folge kam es nach anfänglichem Zögern des Herzogs zu der Disputation von 1560, die nach den Regeln akademischer Disputationen durchgeführt wurde, allerdings nicht in der Räumen der Universität, sondern im Schloss unter dem formalen Vorsitz des Herzogs in Anwesenheit vor allem des Kanzlers. Sie wurde vor einer gelehrten Öffentlichkeit in lateinischer Sprache geführt.
Ausführlich beschreibt G., wie verhärtet die Fronten waren, so dass es zu keiner Annäherung kommen konnte, geschweige denn zu einer Entscheidung, sei es, indem einem der Sieg zuerkannt wurde, sei es, dass es zu einem Kompromiss gekommen wäre. Schon die Rollen – Respondent und Opponent – waren hart um­kämpft und sollten in der Disputation wechseln. War die Dauer akademischer Disputationen eigentlich auf Stunden begrenzt, so währte die Weimarer Disputation sieben Tage. Ziel des mehrfach der Irrlehre geziehenen Strigel war es, diesen Vorwurf völlig zu entkräften, indem er zwar sein Menschenbild durchhielt, das davon ausging, dass dessen ursprüngliche Ausstattung mit »freiem Willen« durch die Erbsünde nicht völlig vernichtet war und er an seiner Rechtfertigung im Hören auf die Schrift durch eine Entscheidung für Gott beim Empfang der Gnade mitwirken könne. Flacius hingegen war daran gelegen, Strigel der Irrlehre zu überführen, indem er Luthers sola gratia verlasse. Der Argumentationsgang wird in der zweiten Hälfte der Studie genau nachgezeichnet und theologiegeschichtlich unter anderem in die Kontroverse Luthers mit Erasmus um den freien Willen eingeordnet. Die Bewertung von Luthers theologisch zentraler Schrift De servo arbitrio blieb zwischen beiden streitenden Theologen kontrovers. Sollte die Disputation sich ursprünglich mit den Themen Verhältnis von Gesetz und Evangelium, freier Wille, gute Werke und Adiaphora befassen, so rückte das Thema freier Wille an die erste Stelle und blieb in der gesamten Disputation beherrschend. Mit verhandelt wurde dabei das Thema Erbsünde, die Flacius als Substanz des Menschen, Strigel als Akzidenz charakterisierte. In Letzterem sah Flacius wieder eine Abkehr von der völligen Angewiesenheit des von Grund auf durch die Sünde gefallenen Menschen auf Gottes Heilstat, wodurch nur der wiedergeborene Mensch eine Willensentscheidung für Gott treffen könne und zur conversio bereit sei. Wenn Strigel auch soteriologisch Zugeständnisse machte, so rettete er doch anthropologisch die Ausstattung des Menschen mit freiem Willen von Na­tur aus. Als durchaus verdienstvoll ist zu bewerten, dass G. durch die verschiedenen Argumentationsgänge hindurch die Quellen genau verfolgt und auch die Wirkung der Disputation genau be­schreibt. Dabei ist religionspolitisch interessant, dass sich der Herzog von Flacius, den er zunächst begünstigte, später abwendete und ihn entließ, Strigel jedoch rehabilitierte, nachdem dieser seine Position in der declaratio Victorini abmilderte, deren Rechtgläubigkeit durch Gutachten bestätigt wurde. Zur Befriedung führte das jedoch nicht. Im Gegenteil: Nachdem sowohl Simon Musäus als auch Victorin Strigel den Machtbereich Johann Friedrichs des Mittleren verlassen hatten, Richtung Bremen und Leipzig, wurde der Streit durch Veröffentlichungen, die der Herzog verboten hatte, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, unter anderem auch da­durch, dass vor allem durch Flacius’ Parteigänger Musäus Teile in deutscher Sprache veröffentlicht wurden.
Die Studie gewährt einen tiefen Einblick in eine zentrale theologische Kontroverse der Reformationszeit.