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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

772–774

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Svec Goetschi, Milena

Titel/Untertitel:

Klosterflucht und Bittgang. Apostasie und monastische Mobilität im 15. Jahrhundert.

Verlag:

Wien u. a.: Böhlau Verlag 2015. 550 S. m. 8 Abb. = Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 7. Geb. EUR 75,00. ISBN 978-3-412-50152-5.

Rezensent:

Klaus Unterburger

Die von Lothar Schmugge in Zürich betreute Dissertationsschrift von Milena Svec Goetschi untersucht die Supplikenregister der päpstlichen Poenitentiarie (ergänzt der Kammer und der Kanzlei) – flankiert von lokalem Quellenmaterial – nach dem Phänomen der Klosterflucht (apostasia a religione) im Spätmittelalter. Sie ist in drei Teile gegliedert: I) Normative Grundlagen; II) Quantitative und qualitative Auswertung der Bittschriften; III) lokale Fallstudien für die Diözesen Konstanz und Augsburg, die die Sichtweise der Betroffenen in Suppliken durch anderweitiges Archivmaterial ergänzen. Grundlage sind die erschienenen Bände des Repertorium Poenitentiariae Germanicum (für den Zeitraum 1431–1492).
Da die Profess den lebenslangen Übergang in den Religiosenstand begründete, war eine päpstliche Dispens nur in ganz eingeschränkten Fällen möglich, es sei denn, die Profess selbst war rechtlich fehlerhaft bzw. gar nicht zustande gekommen. Von der Apostasie (Klosterflucht, vorübergehend oder auf Dauer) ist der Transitus zu unterscheiden, der Übertritt in ein anderes Kloster oder einen anderen Orden. Diese war arctioris vitae causa prinzipiell möglich, man benötigte hierfür aber eine Dispens bzw. Lizenz; im Einzelnen war die Rechtslage hier komplex und verworren. 1298 verhängte Papst Bonifaz VIII. für Klosterapostasie die excommunicatio latae sententiae. Prinzipiell nahm im Laufe des Spätmittelalters die Zahl der Dispense ebenso zu wie die Härte der Sanktionen. Als Gründe für die Ungültigkeit der Profess kamen auf der einen Seite Furcht und Zwang in Frage, wobei die Oblationspraxis durch die Eltern doch weiter fortbestand, dazu eine mögliche Irregularität des Professen. Bei Suppliken an den Papst konnte in Rom nur die Rechtslage bewertet werden, für die Erzählung des faktischen Hergangs war eine Überprüfung vor Ort notwendig, was folglich an die Ortskirchen delegiert wurde. Ziel der Suppliken war so die Absolution von der Exkommunikation, eine Vollmacht, die der Papst vielfach aber auch an Generalkapitel oder Legaten delegierte und dies deshalb dann auch einzelne Äbte nach entsprechender Vollmachtverleihung vollziehen konnten. Andere flüchtige Ordensleute wandten sich auch an die Apostolische Kammer oder Kanzlei.
Teil II wertet die kuriale Supplikenüberlieferung der Poenitentiarie und – soweit die Edition der Repertorium Germanicum fortgeschritten ist – auch von Kammer und Kanzlei aus, insgesamt 995 Bittschreiben von Religiosen, die sich wegen Apostasie oder Transitus an die Kurie gewendet haben (teilweise gibt es auch eine Doppelregistrierung; rund 80 % ließen ihre Angelegenheit durch einen Prokurator vertreten, die anderen waren persönlich in Rom). 80–85 % der Suppliken stammen von Männern, da diesen die Klosterflucht faktisch leichter war als den meist streng klaustrierten Frauen; Frauen erstrebten eher einen Wechsel der Lebensform auf legalem Weg. Im Laufe des Jahrhunderts nahm die Zahl der Suppliken dabei zu, parallel zum wachsenden Andrang an den päpstlichen Hof bzw. Gnadenbrunnen. Die größte Gruppe waren die Benediktiner (fast ein Drittel), wohl parallel zu den Reformströmungen des 15. Jh.s; bei den Apostatinnen waren die Dominikanerinnen die größte Gruppe, nachdem Büßerinnengemeinschaften vielfach in diese strikter regulierte Lebensform umgewandelt wurden. Wie bei den Ehesuppliken stammten aus den Bistümern Konstanz und Mainz die größte Gruppe; der Südwesten des Reichs war deutlich kuriennäher als der Norden und Osten (die kuriennächsten Nationen waren Frankreich, Italien und das Reich). 50 % der Männer legten bei der Flucht den Habit völlig ab und sogar 64 % der Frauen. Dabei galt der unerlaubte Übertritt in einen anderen Orden als Apostasie, was besonders Benediktiner (zugleich der begehrteste Zielorden) betraf, ein Umstand, der wiederum mit den Reformwellen des Jahrhunderts in Zusammenhang steht. Etwas mehr als ein Fünftel der männlichen Bittsteller gab als Motiv für die Klosterflucht den Übertritt in eine andere Gemeinschaft an; als wichtigere Entschuldigungsgründe erscheinen auch Ungültigkeit der Profess, Gewalttaten und Kriegszüge; Leichtsinn, Streitigkeiten; Unerlaubtes Pilgern, usf. Bei Nonnen war die Profess wider Willen (fast ein Viertel) am häufigsten gefolgt von Transitus und Unkeuschheit (je fast 18 %) und Ungültigkeit der Profess (11 %). Diese angeführten Gründe waren freilich auch jene, die gute Dispenschancen erwarten ließen, zumal besonders die elterlichen Oblationen bei den Reformern umstritten waren. Erst durch den Einbezug lokaler Quellen wird die Bedeutung von Observanzbestrebungen und die durch diese hervorgerufenen Spaltungen deutlich, da Reformen entweder die gelobte Lebensform veränderten und zu erschweren schienen oder Religiosen umgekehrt wegen ausbleibender Reformen unzufrieden waren.
Teil III bringt Einzelfallstudien aus dem Südwesten von Fällen, in denen sich das weitere Schicksal der Supplikanten rekonstruieren lässt. So floh aus Ottobeuren 1471 eine Gruppe von sechs Mönchen (zwei blieben, die vom Bischof dann eingesperrt wurden), die sich gegen Reformströmungen und die Tendenz wandte, die Abtei immer mehr in ein bischöfliches Eigenkloster umzuformen. Vier Mönche von St. Ulrich/Augsburg wurden nun in den leerstehenden Konvent abgeordnet (1474). Die Flüchtigen hatten inzwischen beim Papst geklagt, der den Prozess delegierte; sie bekamen zu­nächst Recht, so dass sich Folgeprozesse anschlossen. Eine Visitation 1477 fiel zu Ungunsten des Konvents aus. Es kam zu einer erneuten Flucht; der Konvent wählte im Exil in Luzern einen Gegenabt in Frontstellung gegen die Eingriffe des Augsburger Bischofs. Trotz der guten Netzwerke der entlaufenen Mönche konnten sie sich letztlich nicht durchsetzen; erst Jahre später kehrte in Ottobeuren Frieden ein und noch einmal deutlich später erholte sich das Klos-ter auch ökonomisch. Ein anderes quellenmäßig gut erschließbares Beispiel ist der St. Gallener Benediktiner Gallus Kemli (1417–1481), der 1443–1470 und 1470–1480 ein unstetes Wanderleben führte und schließlich im St. Gallener Klosterkerker starb. Zeit seines Lebens sammelte und schrieb er Bücher. Unterstützung erhielten entlaufene Mönche vielfach vom städtischen Bürgertum, so der Benediktiner Hans Friedrich von Heidegg aus St. Blasien durch den Rat von Solothurn. In Winterthur wehrten sich zwei Terziarinnen gegen die Einführung einer strengen Klausur durch den Rat durch Flucht. Sie beriefen sich in ihrer Bittschrift an die Poenitentiarie auf das Herkommen, eine von ihnen wurde von einem Kleriker schwanger. Kinder gefallener Ordensschwestern wurden weggenommen und fremdplatziert. Beide wurden eingefangen und kamen später durch die Schweizer Reformation frei. Ein weiteres Beispiel führt zum Konvent St. Katharinental (Diessenhofen, Thurgau), einem Zentrum weiblicher Mystik, wo die Nonnen wegen kriegerischer Ereignisse 1460 fliehen mussten. Ein anderes mystisches Zentrum waren die Dominikanerinnen in Töss, wo man gegen die Einführung rigider Reformen (Verbot der herkömmlichen Badefahrten) durch ein Transitusgesuch reagierte, eine Dispens, die man sich offenbar »auf Reserve« schon einmal verleihen ließ. Widerstand gegen Reformen führte auch zum Auszug von 39 Nonnen aus Klingental und St. Klara in Basel.
Das Hauptresultat der sorgfältig gearbeiteten Studie liegt also vor allem darin zu zeigen, wie sehr die Observanz- und Reformbestrebungen des 15. Jh.s Konvente spalteten und vielfach von außen oktroyiert wurden. Die analysierten Quellen ermöglichen vielfach Einblicke in Motive, die sich einer einseitig an den Quellen der Reformer orientierten Geschichtsschreibung verschließen. Noch die im Widerstand gegen die Reformation gezeigte Anhänglichkeit an das Ordensleben war bei den Observanten nicht stärker als bei den am Herkommen orientierten und weniger rigide regulierten Ordensleuten. Dabei bleibt in einer anderen Hinsicht die Studie beinahe notgedrungen auf der normativen Ebene stehen: Rechtlich muss sie vom päpstlichen Kirchenrecht und dessen Geltung ausgehen, faktisch von den Suppliken in den päpstlichen Registern. Wie viele Fälle unabhängig vom päpstlichen Recht anderweitig gelöst wurden, wie verbreitet also dessen Befolgung war, kann so nicht mehr geprüft werden.