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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

768–769

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nes, Jermo van

Titel/Untertitel:

Pauline Language and the Pastoral Epistles. A Study of Linguistic Variation in the Corpus Paulinum.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. XXII, 532 S. = Linguistic Biblical Studies, 16. Geb. EUR 158,00. ISBN 978-90-04-35841-6.

Rezensent:

Bernhard Mutschler

Um es vorwegzunehmen: Das selbst gesetzte Ziel des Buches wird erreicht. Es lautet: »Overall, this study is nothing but a modest critique of the linguistic arguments used by scholars to support a particular theory of authorship for the PE« (224). Die eigentliche Untersuchung umfasst gut 220 Seiten mit zwei gleich langen Teilen: (1.) Geschichte, Inhalte und bisherige Lösungsversuche der sprachlichen Besonderheiten der Pastoralbriefe im Gegenüber zu den Paulusbriefen (1–110), und (2.) neue Überlegungen zu den sprachlichen Besonderheiten der Pastoralbriefe (111–220). Beide Teile sind jeweils in drei Kapitel untergliedert.
Mit der vorgelegten Untersuchung wurde der niederländische Neutestamentler Jermo van Nes 2017 von der Evangelischen Theologischen Faculteit (ETF) in Leuven und der Theologischen Universiteit (TU) in Kampen im Rahmen eines joint PhD in Theology and Religious Studies promoviert. Die Arbeit wurde durch die Professoren Armin D. Baum (Leuven/Gießen) und Rob van Houwelingen (Kampen) betreut.
Das erste Kapitel ist der Problem- und Forschungsgeschichte gewidmet. Obgleich sprachliche Beobachtungen bereits in der Antike mit Verfasserhypothesen verknüpft wurden (z. B. Eus., H.e. III 25,6 f.; VI 14,2; 25,11), werden sprachliche Besonderheiten der Pastoralbriefe erstmals am Ende des 18. Jh.s als unpaulinisch beurteilt. Beginnend mit Edward Evanson (1792) zum Titusbrief, sind hier etwa zeitgleich die Namen von Schleiermacher (1807, zu 1Tim) und Eichhorn (ab jetzt alle drei Briefe) sowie gegen Ende des 19. Jh.s Holtzmann und danach Harrison (1921) zu nennen. Die Nähe zwischen Pastoral- und Paulusbriefen wird allerdings verschieden bestimmt; auch die Verfasserhypothesen differieren (pseudepigraph, Schüler, Redaktor, Sekretär). Im nächsten Kapitel werden sprachliche Besonderheiten – sowohl lexikalischer als auch syntaktischer Natur – zusammengestellt. Eine Vielzahl von Tabellen gehört ab jetzt zur Darstellung.
Beleuchtet werden Hapaxlegomena, lexikalische Breite, das Fehlen »paulinischer« Wörter, der Reichtum an Komposita, se­mantische Abweichungen im Verhältnis zu unbestrittenen Paulusbriefbelegen sowie Hellenismen und Latinismen. In syntak-tischer Hinsicht werden Satzverbindungen, Satzunterbrechungen, Irregularitäten wie Anakoluth, Parenthese, Ellipse, besondere Konstruktionen (ὡς, Artikel, Präpositionen) und stilometrische Befunde fokussiert. Sowohl hinsichtlich der Genauigkeit ihrer Erhebung als auch hinsichtlich ihrer Deutung sind die Befunde bis heute im Fluss. Im dritten Kapitel erfolgt eine Korrelation der sprachlichen Befunde mit ihrer bisherigen Interpretation im Rahmen von Autorhypothesen. Vorgestellt werden Modelle für Paulus als Autor, für Lukas oder Tychikos als Sekretäre (Schreiber) des Paulus, für einen (Lukas, Timotheus, Polykarp) oder mehrere fremde Autoren sowie für Kombinationen aus Orthonymität und Pseudonymität. So werden beispielsweise einzelne Abschnitte (Fragmente) oder auch der zweite Timotheusbrief und (oder) der Titusbrief dem Apostel Paulus zugeschrieben.
Mit dem vierten Kapitel beginnt der zweite Hauptteil, der neuere Überlegungen zum Verhältnis zwischen sprachlichen Beobachtungen und Verfasserhypothesen vorstellt. Am Beginn stehen methodische Überlegungen. Während seit Evanson, Schleiermacher und Eichhorn traditionellerweise sprachliche Beobachtungen, theologische Besonderheiten und historische Fragestellungen gemeinsam behandelt werden, wird hier der Anspruch formuliert, sprachliche Fragen allein aus einer sprachlichen Perspektive zu interpretieren, ohne sie von vornherein mit der Verfasserfrage zu verbinden. Denn allzu oft wurde geforscht, »as if there is no other option than to harness the horses of language to the carriage of a particular authorship theory« (113). Diskutiert werden Modelle der Verfasserschaft, die Notwendigkeit zu quantitativer und qualitativer Analyse sowie Fragen nachpaulinischer Interpolationen oder von Sekretären und Koautoren. Im Ergebnis wird eine Einzelbetrachtung jedes der drei Briefe sowie der unbestrittenen Paulusbriefe in quantitativer und qualitativer Hinsicht gefordert. Im folgenden Kapitel wird eine sprachliche Analyse exemplarisch im Blick auf Hapaxlegomena, lexikalische Breite und fehlende Partikeln vorgeführt. Für die ersten beiden Bereiche sind der erste und der zweite Timotheusbrief zwar nach oben hin auffällig; allerdings werden dafür weitere Erklärungsmöglichkeiten ins Spiel gebracht, so dass die Verfasserfrage zurücktreten kann. In Kapitel sechs werden Satzverbindungen (Para- oder Hypotaxe) sowie Anakoluth, Parenthese und Ellipse aus dem Bereich der Irregularitäten untersucht. Hier sind sämtliche Befunde unauffällig und fügen sich in das übrige Corpus der Paulusbriefe ein. Eine gewisse Streubreite kann möglicherweise besser durch Faktoren wie Alter, Schriftlichkeit oder Emotionalität erklärt werden als durch eine Verschiedenheit des Verfassers.
In der Schlussfolgerung (221–224) werden häufige Fehlerquellen traditioneller Forschung an den Pastoralbriefen benannt: subjektive Leseeindrücke anstatt belastbarer statistischer Daten, Nichtbeachtung von Brieflängen, Verallgemeinerungen von Be­obachtungen an einem einzelnen Pastoralbrief und Vermischung von sprachlichen Beobachtungen mit historischen Rekonstruktionen (Hypothesen). Das Gesamtergebnis sorgfältiger quantita-tiver Analyse lautet dagegen, »that even though the language of the Pastorals differs from that of the other Paulines in some respects, it is quite similar in many more respects« (222). Zur Erklärung sprachlicher Eigentümlichkeiten sind zudem Faktoren wie Zitate, Eigennamen, Thema, Subjektivität, Produktivität, Emotionalität, Alter oder Schriftlichkeit von Fall zu Fall belastbarer und darum aussagekräftiger als Hypothesen zur Verfasserschaft. Trotz der Begrenztheit und Auswahl der analysierten sprachlichen Be­sonderheiten werden einige überkommene Glaubenssätze der Pastoralbriefforschung erschüttert: Dass sich die Pastoralbriefe generell von den früheren Paulusbriefen unterscheiden oder dass bestimmte sprachliche Besonderheiten alle drei Briefe verbinden und zusammenschließen. Stattdessen sind sie als »individual letter compositions« zu betrachten (224). Eine bestimmte Verfasserhypothese lässt sich mit sprachlichen Argumenten nicht begründen: »the Pastorals could have been written by any person, be it Paul, a secretary, a redactor, a pseudepigrapher, or a combination of these« (ebd.). Eine bestimmte Verfasserschaft sollte daher zu­künftig besser historisch und theologisch als durch sprachliche Argumente begründet werden. Umfangreiche Listen zu sprach-lichen Besonderheiten im Corpus Paulinum, z. B. zu Hapaxlegomena (225–276) und Satzverbindungen (290–473), schließen sich an.
Die gut gegliederte und gut lesbare Studie bereichert und erweitert die bestehende Diskussion. Unklar blieb mir eine Differenzierung zwischen deutero- und tritopaulinisch (vgl. Mutschler 2010, Kapitel 3) sowie manche komplizierte mathematische Formel (z. B. 124–127). Der gelegentliche Anschein einer gewissen apologetischen Argumentation im Blick auf die verfolgte These schmälert das Lesen keineswegs. Das Buch enthält darüber hinaus weit über 50 Tabellen, ein Dutzend graphische Übersichten sowie ein Literaturverzeichnis und ein Bibelstellen- und Autorenregister.