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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

760–764

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Berger, Klaus

Titel/Untertitel:

Die Apokalypse des Johannes. Kommentar. 2 Teilbde.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 1540 S. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-451-34779-5.

Rezensent:

Martin Karrer

Klaus Berger legt einen ebenso bedeutenden wie eigenwilligen Kommentar zur Apk vor. Dessen Besonderheit ergibt sich durch drei grundlegende Entscheidungen.
1. B. liest die Apk als ein prophetisches Werk, das sich an den großen Schriftpropheten Israels orientiere (I 55–59). Apokalyptische Kontexte werden dadurch nicht bedeutungslos, da der Seher As-pekte der Geschichtsapokalyptik in den Text einbindet; aber B. widerspricht entschieden allen Vorbehalten gegen ein »apokalyptisches« Buch (I 59 f. u. ö.).
Auf den ersten Blick klingt die Entscheidung sehr plausibel. Die Apk ist durchzogen von Referenzen auf die alten Propheten. Namentlich das Ezechielbuch dient dem Seher durchgängig zur Orientierung (I 61–64). Der Geist der Prophetie reicht ihm zufolge von den alten Schriften zur frühchristlichen Prophetie und dem Selbstverständnis des Sehers (vgl. die Linie bis Apk 19,11; vgl. B. II 1267 f.; erstaunlicherweise vertieft B. das nicht bei 22,6–9; II 1490 f.). Zugleich bleibt der Vergleich mit apokalyptischen Schriften möglich. B. benützt ihn, um die Apk von Joh und 1–3 Joh (anonymen Schriften) zu trennen (I 78) und um Auslegungen zu kontextualisieren. Er erwägt z. B., der Übergang vom Tausendjährigen Reich in Apk 20 zur Vision des neuen Himmels und der neuen Erde sowie dem himmlischen Jerusalem in Apk 21,1–22,5 folge dem Schema Messiasreich-Gottesreich, das in Sib 3 und den Apokalypsen vom Ende des 1. Jh.s (syrBar, 4Esr) hervortrete (II 1377 f.; die Stellenangabe aus Sib ist ungenau).
Seine Beobachtungen führen B. zu einer bemerkenswerten Formbestimmung. Er sieht den Aufbau der Apk mit der Abfolge von geschichtlichen Mahnworten (in Kapitel 1–3 brieflich gefasst) zu einer eschatologischen Rede – die in der Apk besonders umfangreich ist und wie das Jesajabuch in einer überwältigenden Vision des Neuen kulminiert (Apk 4–22) – durch die prophetische Literatur vorgezeichnet (bes. Jes; I 56–58). Der Autor sei orthonym (Johannes), Seher und Prophet (I 79). Aus seiner Christuserfahrung heraus verfasse er »eine appellative apokalyptische Offenbarungsrede an die Auserwählten« in prophetischer Tradition (Zitat I 58).
B. knüpft damit an seine wertvollen Arbeiten zu den neutestamentlichen Formen an. Schon in den 1970er Jahren stellte er die formale Dynamik einer Abfolge von Mahnung (mit ggf. brieflicher Anrede) und eschatologischen Mitteilungen heraus, die auch paulinische Briefe erfassen könne, aber maßgeblich nicht von den Paulinen her zu erörtern sei (vgl. Apostelbrief und apostolische Rede, ZNW 65, 1974, 190–231). Dies aufgreifend, pointiert er nun: Obwohl das Briefformular der Apk (1,4–6; 22,21) paulinisch klinge, sei es primär nicht mit der paulinischen Brieftradition zu korrelieren (I 55 f.). Er reduziert das anknüpfende und kritische Gespräch der Apk mit paulinischen Positionen, so gewiss er den Vergleich mit Paulus, der durch die Überschneidung des paulinischen Wirkens mit den in der Apk genannten Gemeinden der Asia erforderlich wird, kei nesfalls ausklammert (vgl. I 94–100). Das Verhältnis zu anderen neutestamentlichen Schriften, besonders zum 1Petr (I 93 f.) und zum Hebr (II 1415–1417), beschäftigt B. nicht minder.
Das Bild der Prophetie ist in den frühchristlichen Quellen vielschichtig. In der Apk kulminiert es in Kapitel 11; die zwei Propheten bzw. Zeugen zehren nach B. von einer Überlieferung über die Zebedaiden Johannes und Jakobus (besonders II 790–797). Unwillkürlich drängt sich die Frage auf: Wie verhält sich das Selbstverständnis des Sehers dazu? B. entwirft (ab I 85) ein breites Bild seiner Gestalt vom Mahner bis zum Vorhersager, vom Propheten des Lichts bis hin zum »Wut-Prophet(en)« (Letzteres in 22,11; Zitat II 1502). Frühchristliche Propheten sieht B. noch in 18,20 und vielleicht sogar in den 24 Ältesten von Apk 4,4 gemeint (II 1231). Doch eine religionsgeschichtliche Entwicklung der frühchristlichen Prophetie ist schwer zu erheben, zumal der Autor der Apk sein Werk in die Prophetie einordnet, ohne sich selbst explizit einen Propheten zu nennen. M. E. will er eine Verwechslung mit Propheten der nichtjüdisch-nichtchristlichen Umwelt – den Propheten an den Orakeln (Klaros, Didyma) und den Tempeln seiner Zeit – ver meiden, weswegen der religionsgeschichtliche Vergleich auszuweiten wäre.
Übersehen wir nicht, wie weit B. seinerseits den religionsgeschichtlichen Bogen spannt. Er befasst sich mit Offenbarungsliteratur und anderen Quellen von der ägyptischen Sonnentheologie (I 87–89) über die Apokalyptik bis hin zur Vorstellung der »himmlischen Hallen« in der jüdischen Mystik (Hekhalot-Literatur; I 90 f., Zitat 90, I 102–106). Über der Fülle der Quellen ist freilich jede einzelne zu prüfen. Darf etwa das hebräische Sefer Elija, das außerordentlich schlecht überliefert ist und auch nach B. frühestens ins 2.–4. Jh. gehört, zur Einordnung des Aufbaus der Apk so hoch wie bei B. I 64 f. gewichtet werden (zu unterscheiden ist es von der verbreiteteren Elia-Apokalypse)? Darf die von Laktanz in den div. Inst. VII 17,1–3 aufgegriffene Apokalypse nach der Kritik durch S. Freund (Laktanz, Divinae Institutiones, 2009, besonders 53–69) noch so weit zurückgeführt werden, dass sie als Quelle zum Verständnis von Apk 11 und 13 relevant wird (vgl. B. II 758–765)? Eine stärkere Differenzierung wäre bei vielen der genannten Quellen m. E. wünschenswert.
2. B. legt die Apk im Zusammenspiel mit ihrer großen Wirkungsgeschichte aus. Diesen Punkt könnte man sogar an erster Stelle nennen. B. beginnt nämlich seine Literaturverzeichnisse am Anfang des Kommentars mit Werken zur Kunst-, Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte (I 5–21; hinzuzunehmen sind noch die alten Kommentare aus der Liste der Kommentare 22–42). An jede Auslegung eines Abschnitts fügt er umfangreiche Skizzen zur Wirkung an. Selbst seine Gliederung wird tangiert; die Wirkungsgeschichte schuf die relevanten Einheiten, wie er schreibt, »mehr oder weniger (!) durch den Aufbau des Textes selbst gestützt« (I 1).
Durch dieses Verfahren gewinnt der Kommentar eine außerordentliche Lebendigkeit. Leserinnen und Leser begegnen ihnen vertrauten Werken der Kunst (von der Trierer Apk bis zu neuzeitlichen Gemälden), des Kirchenbaus (angeregt durch O. Böcher), der Liturgie (Einzelmotiven und Hymnen) und der Literatur (z. B. Hölderlins Hymne Patmos I 118–123). Die Apk spricht sie unmittelbar an; B. nennt sie bis zu den letzten Sätzen des Kommentars »seelsorgerlich« (bis II 1522; einführend I 67 [ff.]).
Allerdings ist eine große Besonderheit der Wirkungsgeschichte zu beachten, die bei B. nicht leicht zu erkennen ist, da er auf eine Einführung in die Epochen und Sprachen der Lektüre verzichtet: Die Apk wurde im lateinischen Westen von frühester Zeit an hoch geschätzt, und diese Hochschätzung brach nie ab. Im griechischen Osten dagegen kam es im 3. Jh. zu einer heftigen Diskussion über ihren Chiliasmus (Euseb, h. e. VII 24; das hebt B. in seiner Darstellung über den Chiliasmus II 1306–1335 nicht hervor). Die Apk fand keinen Eingang in die griechische Liturgie, so gewiss sie in die östlichen Kirchen und bis nach Äthiopien weit ausstrahlte. B. ist ausdrücklich zu danken, dass er den größeren Radius der slawischen, armenischen, georgischen, syrischen, koptischen, äthiopischen Rezeption usw. berücksichtigt; dennoch ist auf das Ungleichgewicht der wirkungsgeschichtlichen Quellen aufmerksam zu machen:
Es gibt wenige griechische Auslegungen, und diese erst ab dem 6. Jh. (B. bibliographiert in seinen Literaturlisten die kritische Edition des Oecumenius, Schmids Edition des bedeutenderen Andreas von Caesarea dagegen nicht). Die Übersetzung dieser Kommentare verzögerte sich bis in jüngste Zeit, was die Kenntnis zusätzlich behindert (erst im Ergänzungsband »Leih mir deine Flügel, Engel«, Freiburg i. Br. 2018, 373, kann B. die deutsche Übersetzung des Andreaskommentars nachtragen, die 2014 erschien). Deshalb seien die Kommentare bis Arethas (in I 25 nach PG angegeben, inzwischen durch A. von Blumenthal, Berlin 2015 übersetzt) intensiver als bei B. empfohlen.
Das aber hat einen wichtigen Nebenaspekt. Die griechische Gliederung der Apk unterscheidet sich von der lateinischen. Die griechischen Kapitel (Kephalaia) sind in der Handausgabe des Neuen Testaments (Nestle-Aland28) angegeben. Die inhaltlich gravierendste Differenz findet sich in der Mitte der Apk. Die für B. maßgebliche Gliederung entspricht dort dem westlichen Aufbau. Die Verse 12,1–18 bildet eine Einheit in sich, beginnend mit der Vision der Himmelsfrau. B. weiß darum, dass die Frau im Ausgangstext den Zion meint (II 880, verbunden mit einer eschatologisch-chris-tologischen Zuspitzung). Der Westen aber sah in der Frau ab ungefähr 1200 mehrheitlich Maria und vertiefte das unter anderem durch eine Kombination mit dem Hohenlied. B. übernimmt das Gliederungsschema und zeigt sich daher auch von der mariologischen Deutung beeindruckt (II 881–892); Relationen zwischen der Apk und dem Hohelied beachtet er ab I 92 f. Der griechische Andreaskommentar dagegen (der für die Kephalaia maßgeblich ist) setzt den Beginn der Einheit in 11,19 an; die Deutung auf Zion gewinnt auch gliederungsmäßig die Priorität (Andreas widerspricht den kurz vor ihm beginnenden mariologischen Deutungen des Kapitels). Der Abschnitt endet in 12,17 statt 12,18. Das Profil der Wirkungsgeschichte würde sich schärfen, wenn B. solche Konflikte unter seinem überwältigenden Materialreichtum prononciert sichtbar machen würde.
Was den Westen angeht, schuf der Ausleger Tyconius kurz vor 400 (vgl. B. I 22) den bis zum Mittelalter meistzitierten Kommentar. Doch dieser ging danach verloren, so dass erst in jüngster Zeit eine Rekonstruktion aus den Zitaten gelang (ed. R. Gryson 2011; bei B. noch nicht bibliographiert). Selbst bei einer so umfassenden Sammlung wie der B.s stehen mithin Nachträge an, die sich auf das Gesamtfeld der Rezeption auswirken. Es wäre beckmesserisch, dies als Kritik vorzubringen; zu sehr imponiert die Breite der Beobachtungen. Allein, der Leserin und dem Leser muss bewusst sein, dass die ansprechende Aktualität der von B. berichteten Wirkungen sich einer spezifischen Anordnung im Kommentar verdankt.
3. B. erarbeitet eine eindrückliche theologische Konzeption der Apk. Der Seher schaut Visionen des Lichts und drückt sie in traditioneller Sprache aus (vgl. I 226 zu 1,12–19), um höchst gefährdete Menschen durch eine Theologie der Befreiung und Erlösung zu stützen (einführend I 51–55).
– Die Lichttheologie reicht laut B. von der eröffnenden Vision bis zum Licht des himmlischen Jerusalem (I 65–67 usw.). Einige Male ließen sich bei einer Erweiterung der religionsgeschichtlichen Horizonte zusätzliche Pointen setzen (vgl. den antiken Helios zum Licht der Sonne in 1,16 usw.).
– Die Gefährdung der Menschen spitzt sich in der Gefahr von Martyrien zu. Da die domitianische Verfolgung fraglich geworden ist, hebt B. die Krise unter Nero hervor und sieht den klarsten Ort der Apk zwischen dem Brand Roms (64 n. Chr.; angespielt in Apk 18, II 1228) und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.; in 11,2.8 noch nicht erfolgt). B. wird zum Anhänger einer frühen Datierung der Apk (I 83, gegen die späte Datierung Witulskis). Die Konfliktsituation vertieft sich in dualistischen Bildern (Drachenmythos in Apk 12, II 856 f. u. ö.), der Kritik des Weltreichs (ab I 53) und Ansätzen zur Antichristvorstellung (Apk 13; II 1006–1013).
– Die Theologie der Befreiung und Erlösung speist sich aus der breiten Rezeption von Motiven des Exodusbuches und der Exodus-erinnerung (51 usw.). Die Apk deutet das Blut Christi stellvertretend (I 131 f.) und erachtet die Taufe als typologisches Pendant des Pascha (I 51 f.; vgl. besonders I 606–608 zu Apk 7,2 f. und II 923–925 zu Apk 12,10–12). Das Leben der Getauften und die Bereitschaft zum Martyrium gehen eine eindrückliche Korrelation ein (I 626 zu Apk 7,14).
Diese Koordinaten erweitert B. um eine Vielzahl von weiteren Aspekten (Talio, Ethik usw.). In aller Regel geht er gleitend von der Auslegung zur Wirkungsgeschichte gegenüber. Das erschwert die Lektüre exegetisch, da die Apk die altkirchliche Tauftheologie eher vorbereitet als voraussetzt etc. Es sorgt aber für die oben schon angesprochene Intensität der Applikation.
Damit rundet sich das Bild. Zusammenfassungen (zum Gesamtwerk II 1524 f.) erleichtern die Lektüre für rasche Leser. Beschwerlich sind die Ungenauigkeiten in Bibliographien und Quellenangaben. Der Stil ist oft aphoristisch und das Register karg; es nennt nur Themen, nicht Quellen und Hauptwerke der Wirkungsgeschichte. Der Verlag verzichtete außerdem auf Abbildungen. Das ist nachvollziehbar, da eine Fülle von Bildern heute im Internet aufrufbar ist; trotzdem hätten Abbildungen den besonderen Reichtum des Kommentars im Bereich der Wirkungsgeschichte noch stärker zur Geltung gebracht.
Alles in allem bietet der Kommentar eine Summa der jahrzehntelangen Erkundungen B.s zur Apk. Er ist auch von Lesern gut nutzbar, die die enge Verbindung von Exegese und Wirkungsgeschichte anders handhaben und einige theologische Akzente verschieben würden. Er ist ein theologisch höchst anregendes, bedeutendes Werk.