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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

752–754

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Naumann, Thomas

Titel/Untertitel:

Ismael. Israels Selbstwahrnehmung im Kreis der Völker aus der Nachkommenschaft Abrahams.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2018. XIII, 554 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 151. Kart. EUR 70,00. ISBN 978-3-7887-3260-8.

Rezensent:

Kristin Weingart

Thomas Naumanns Studie zum narrativen und theologischen Profil Ismaels in der alttestamentlichen Überlieferung ist ein über die Jahre gereiftes Werk. Ursprünglich Gegenstand von N.s Habilitationsschrift (1996), wurden Teilergebnisse zwischenzeitlich in Aufsätzen veröffentlicht. Der vorliegende Band stellt nun die Früchte der jahrelangen Beschäftigung mit den Ismael-Texten der Genesis, ihrer Rezeptionsgeschichte und ihren theologischen Implikationen in einer eindrucksvollen Zusammenschau dar, deren Ziel nicht weniger ist, als »zu einem grundlegenden Neuverständnis von Abrahams erstgeborenem Sohn in der Genesis zu gelangen« (1).
Die Darstellung setzt mit einer Einführung in die Problemlage ein, die die in weiten Teilen einseitige und auch belastete Rezeption der Ismaelgestalt in der christlichen und jüdischen Wahrnehmung wie auch in der wissenschaftlichen Auslegung vor Augen stellt. Die christliche Ismael-Rezeption sieht N. grundlegend von Gal 4,21–31 her geprägt, d. h. von der Kontrastierung des verworfenen Ismael mit Isaak als »Kind der Verheißung«. Langfristig sei damit »die Ismaelgeschichte für das Christentum verlorengegangen«; Ismael wurde zum »Symbol der Nichtzugehörigkeit« bzw. »des verworfenen Gottesfeindes« (4). Die frühjüdische Rezeptions geschichte war dagegen, wie N. im rezeptionsgeschichtlichen Schlussteil der Studie (443–490) belegen kann, vielfältiger, auch wenn sich in der rabbinischen Wahrnehmung letztlich ebenfalls das Frevler-Image Ismaels festsetzte.
An die Stelle des Kontrastmodells setzt N. in seiner exegetischen Neuorientierung ein »Modell der versöhnten Verschiedenheit« (15). Hierin findet er die eigentliche – durch die Auslegungsgeschichte vielfach verstellte – Sicht der Ismael-Texte auf die Söhne Abrahams und ihr Verhältnis. Der gewählte methodische Zugang ist eine auf die Endgestalt der Texte fokussierte synchrone Lesart, der es vor allem um die auf dieser Ebene liegenden narrativen Linien, Verbindungen, Dramatisierungen usw. geht.
Herzstück der Studie sind exegetische Untersuchungen zu den zentralen Hagar-Ismael-Texten Gen 16 (29–137) und Gen 21 (252–360) sowie zu Ismael im Abrahambund Gen 17 (138–251). N. setzt mit Überlegungen zum Motiv der Bevorzugung des jüngeren ge­genüber dem älteren Sohn ein (18–28), das er als narrative Ausprägung des Erwählungsverständnisses Israels deutet. Die Bevorzugung des Jüngeren geschehe dabei stets unverdient, beruhe nicht auf einer (moralischen) Überlegenheit und impliziere daher auch keine Verwerfung oder negative Stigmatisierung des nicht Erwählten.
Der narrative Bogen der Ismael-Erzählungen hebt für N. in Gen 15,4 mit der Verheißung eines männlichen Nachkommens für Abraham an. Die Geburt Ismaels sei ein erster Lösungsversuch dieses Grundkonflikts, der erst mit der Geburt Isaaks Gen 21,1–7 (dazu 254–262) endgültig beigelegt werde. Wie in den Erzelternerzählungen insgesamt geht es für N. auch bei Ismael um Israels Verhältnisbestimmung zu seinen näheren und ferneren Nachbarvölkern. Die auf der narrativen Ebene geschilderten innerfamiliären Konflikte, insbesondere aber die Zeichnung der Protagonisten sind somit auf die sozialen Strukturen in der Lebenswelt der israelitischen Erzähler hin transparent. Dies zeigt N. an den Hagar und Ismael in Gen 16 zuteilwerdenden Verheißungen. So werde in der Geburtsankündigung ein konventionelles Darstellungsschema aktiviert, das üblicherweise bei Personen erscheint, die für Israel von hoher Bedeutung sind (mit Parallelen in Ri 13,3–5, Jes 7,14–17, Lk 1,31 f.). Ein Spezifikum der Zeichnung Ismaels, den Wildeselspruch Gen 16,12, beleuchtet N. breit sowohl in seinen biologischen Grundlagen wie auch seiner möglichen Symbolik (83–120). Mit dem Wildeselbild sind für ihn in der Wüste lebende Nachbarvölker Israels im Blick, mit denen Israel je und je in Konflikte geraten konnte, die aber aus Perspektive Israels auch als Träger göttlichen Segens und göttlicher Verheißungen wahrgenommen werden konnten.
Das Motiv der Außenseiterschaft und des Bruderzwists in Gen 16,12 wird von N. als »Konfliktmetapher« diskutiert. In Absetzung von einer breiten Auslegungstradition, die Ismael unter Bezug auf Gen 16,12 als Israel-, Menschen- oder Gottesfeind stilisiert (dazu 110–120), schätzt N. das hier anklingende Konfliktpotential geringer ein, wenn er von »komplizierten Beziehungen« und der angesichts des Gegenübers zu »allen Brüdern« (12b) unterlegenen Position der Ismaeliter spricht, deren Reibungen mit den israelitischen Stämmen sich vor allem aus »der Situation des benachbarten Wohnens« ergeben hätten (107). Ja, »die Geringfügigkeit des historisch eruierbaren Konfliktpotentials« habe es erst ermöglicht, »Ismael […] als Teilhaber an Verheißung und Segen« zu verstehen (109). Ist die Aussage von 16,12 im Dienste der »Rehabilitation« Ismaels damit aber nicht zu kräftig gegen den Strich gebürstet?
Die Analyse von Gen 17 kreist vor allem um die Frage, ob Ismael in dem Bund eingeschlossen ist, der als םלוע תירב (17,19) dem noch nicht geborenen Isaak zugesagt wird. N. bejaht dies dezidiert. Charakteristisch für den Bundestext Gen 17 sei das Ineinander von Völker- und Israelorientierung, das sich nicht literarkritisch oder konzeptionell auf zwei »Bünde« in 17,4–6 und 7–8 verteilen lasse. Vielmehr gehe es Gen 17 um »eine Selbstwahrnehmung Israels im Umkreis der Völkerwelt« (142), wobei Abrahams Rolle in 17,4–6 analog zu Gen 12,3 nicht nur auf die Nachkommen Abrahams, sondern die Weltvölker insgesamt zu beziehen sei. Erst in 17,7–8 werde dann die besondere Bundesgabe an die Nachkommen Abrahams, also auch an Ismael, zum Thema. 17,17–21 schließen vorausblickend auch Isaak in den gegebenen Bund mit ein, wobei Letzterer eine unterschiedliche Akzentuierung für beide Söhne (Segen und Mehrung für Ismael bzw. םלוע תירב und Gottesvolk bei Isaak) erfahre. Ismaels Beschneidung zeige schließlich an, dass er das Bundeszeichen trage und somit Bundespartner sei.
N.s These, die infolge der besonderen Entstehungsgeschichte der Studie länger bekannt ist, hat bereits Anlass zur Diskussion (die N. auch bereits aufnimmt) geboten und wird dies dank ihrer pointierten Bestätigung im vorliegenden Band sicher weiterhin tun. Diskussionsbedarf besteht durchaus – nicht nur im Blick auf die notorisch schwierige Frage, wie die Beschneidung als Bundeszeichen nun eigentlich genau zu verstehen ist. Andere Fragen betreffen z. B. N.s Interpretation der Kreise der Geltung des Abrahambundes. Sind tatsächlich die Weltvölker der äußere Kreis oder bereits die Abrahamskinder, wie V. 5 formuliert? Dann fokussiert der innere Kreis die Verse 7–8 aber doch auf Israel, dem zusätzlich zur Mehrungsverheißung auch die םלוע תירב und die Landzusage gilt. Viel hängt hier an der Funktion von 17,4; gehört der Vers bereits zu den konkreten Zusagen im Blick auf die Völker in 4–6, zu denen dann auch der Bund gehört, oder ist er in seiner solennen Gegenüberstellung von Ich JHWHs und Du Abrahams eine Überschrift, die die Themen von 5–6 und 7–8 benennt, wobei das Thema תירב dann auf 7–8 zu beziehen wäre? Schließlich darf die Bitte Abrahams in V. 18 nicht vergessen werden, die im Zusammenspiel mit der folgenden Gottesrede eher auf eine Einschränkung des Bundes auf Isaak hindeutet.
Gen 21,8–21 fügt sich für N. schließlich gut in den von Gen 16.17 her aufgespannten Horizont. Narrativ zeige sich in Gen 21.22 eine Parallelisierung der beiden Abrahamsöhne: In der Zumutung ihrer Vertreibung resp. Tötung steht jeweils die Verheißung in Frage, wird aber letztendlich durch die Rettung bestätigt. Die Vertreibung sei mithin keine Verwerfung, sie unterscheidet Ismael nicht von Isaak, sondern verbindet beide »in einem Modell der abgestuften Zuordnung der Verschiedenen« (315).
An diese intensive Beschäftigung mit den zentralen Ismael-Texten schließt sich ein Blick auf weitere Ismaelerwähnungen in Gen 22; 18,19 und in Jub 20 (361–380) sowie auf den Schluss der Ismaelgeschichte in Gen 25,1–18 an (318–405) an. Eine Diskussion der Entstehungszeit der Hagar-Ismael-Texte wäre angesichts von N.s Fokussierung auf eine synchrone Analyse der Endgestalt gar nicht zu erwarten, er unterbreitet aber dennoch einen Vorschlag: Die universale Perspektive und das Nachdenken über Israels Stellung in der Völkerwelt erschließe sich am besten in der Achämenidenzeit (440–442).
Sehr erhellend ist die Aufarbeitung der frühen Rezeptionsgeschichte des Ismaelstoffes im Jubiläenbuch, bei Josephus, Philo u. a. (443–490). Sie zeigt für N., dass die einseitig negative Wahrnehmung Ismaels nicht von Anfang an gegeben war und insofern zu Recht als eine rezeptionsgeschichtliche Verengung angesehen werden kann. Eine konzise Zusammenfassung macht die Erträge der Studie leicht zugänglich (491–506).
Es ist ein großes Verdienst N.s, die Problematik eines Kontrastmodells für die Wahrnehmung der alttestamentlichen Ismaelgestalt aufgezeigt zu haben. Ein Modell der abgestuften Zuordnung wird den Texten besser gerecht. Selbst wenn man die Abstufungen stärker gewichtet, als N. es vorschlägt, führt die – im Übrigen sehr gut lesbare – Studie in ihrer konzentrierten Textwahrnehmung und der sie begleitenden Erschließung der Rezeptionsgeschichte fundiert in ein Thema ein, das in seinen theologischen Implikationen, nicht zuletzt für das interreligiöse Gespräch, von zentraler Bedeutung ist.