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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

742–744

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pollner, Manfred

Titel/Untertitel:

Die Vetus-Latina-Fragmente im Jeremiabuch. Untersuchungen zur Textgestalt und deren Lesartendifferenzen gegenüber LXX und MT unter Berücksichtigung inhaltlich-theologischer Bearbeitungsstufen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 742 S. = De Septuaginta Investigationes, 10. Geb. EUR 200,00. ISBN 978-3-525-54066-4.

Rezensent:

Bonifatia Gesche

Immer deutlicher zeigt sich, welch große Bedeutung die antiken Übersetzungen für die biblische Textkritik und die Überlieferungs- und Auslegungsgeschichte haben, so dass sich die Forschung vermehrt auf entsprechende Fragen richtet. In diesen Kontext gehört die hier vorzustellende Studie von Manfred Pollner, die unter der Betreuung durch H.-J. Stipp entstand und im Wintersemester 2015/16 an der Katholisch-Theologischen Fakultät in München als Dissertation angenommen wurde.
Das Jeremiabuch liegt uns heute in mehreren, erheblich voneinander abweichenden Versionen vor, die das Resultat einer bewegten Textgeschichte sind: Neben dem masoretischen Text steht die griechische Textform, die sich durch geringeren Umfang und durch Textumstellungen vom masoretischen Text unterscheidet. Sie gehört offensichtlich zu einer Tradition, wie wir sie aus hebräischen Fragmenten aus Qumran kennen. Die altlateinische Übersetzung, also die Übersetzung einer griechischen Vorlage ins Lateinische, ist wiederum deutlich kürzer als der griechische Text.
Bei Untersuchungen der Geschichte eines biblischen Textes, vor allem bei textkritischen Fragen, muss man berücksichtigen, dass aufgrund lückenhafter Überlieferung bisweilen Lesarten der griechischen Übersetzung eine ältere Form des hebräischen Textes widerspiegeln. Und dann wiederum kommt es vor, dass man in der lateinischen Übersetzung der griechischen Vorlage Hinweise auf die ursprüngliche griechische Textform findet, die innerhalb der griechischen Tradition verloren gegangen ist. Man kann somit unter Umständen von der lateinischen Übersetzung über das Griechische auf die ursprüngliche Form des hebräischen Textes schließen.
Für das Jeremiabuch hat P.-M. Bogaert seine These dargelegt, dass die Vetus Latina, die vor allem durch den Codex Wirceburgensis vertreten ist, die älteste erreichbare Version des Buches repräsentiere, wohingegen der masoretische Text sekundär sei. Dem steht die Annahme gegenüber, die u. a. H.-J. Stipp vertritt, dass die lateinische Übersetzung weitgehend korrupt sei. Diese sich widersprechenden Ansichten veranlassten P., dem Problem der Textgestalt des Jeremiabuches diese umfangreiche Studie zu widmen.
Zunächst (15–58) beschreibt er sein methodisches Vorgehen, stellt seine Arbeitsgrundlagen vor und gibt einen Überblick über die Forschungsgeschichte. Er legt offen, dass er bei seiner Analyse einzelner Lesartendifferenzen nicht ausschließlich den Methoden der Textkritik folgt, sondern darüber hinaus Methoden z. B. der Literarkritik verwendet. Das Anliegen, alle erreichbaren Argumente zu berücksichtigen und sich nicht auf einen Methodenkomplex zu beschränken, um sich der ursprünglichen Textgestalt anzunähern, ist nicht nur legitim, sondern bei dieser Art der Textforschung unbedingt geboten.
Im zweiten Kapitel (59–136) werden Beobachtungen zusammengestellt und an Beispielen analysiert, die Aspekte der Textgestalt des lateinischen Jeremiabuches insgesamt betreffen, um zu zeigen, dass sich Lesartendifferenzen nicht nur durch die Abhängigkeit von einer abweichenden Vorlage, sondern auch durch davon unabhängige Faktoren wie zum Beispiel durch Spezifika der Sprache der Itala, durch Eigenarten der Übersetzungstechnik oder durch Fehler erklären lassen. Im dritten, dem mit Abstand umfangsreichsten Kapitel (137–528), analysiert P. mit großer Sorgfalt einzelne Lesarten. Er versucht festzustellen, ob diese entweder klar von einer der beiden möglichen Vorlagen abhängen oder klar von ihr abweichen. Dabei berücksichtigt er sowohl Unterschiede im Umfang als auch im Wortlaut. Das vierte Kapitel (529–538) umfasst Lesarten, die sich durch inhaltlich-theologischen Einfluss erklären lassen. In Kapitel fünf (539–550) legt P. seine Rekonstruktion der Textentwicklung des lateinischen Textes vor. In seiner »zusammenfassende(n) Bewertung« (Kapitel 6, 551–560) kommt er zu der nun gut begründeten Aussage, dass der Septuagintatext als Vorlage für die lateinische Übersetzung diente, sich allerdings deutliche Beziehungen zu unterschiedlichen griechischen Textformen zeigen. Als Ergebnis seiner Studie hält er fest (558–560), dass sich die Frage nach der Priorität der Textversionen nicht pauschal beantworten lässt, die Einzelanalysen jedoch gewisse Tendenzen zeigen. Die Vorlage für die Vetus Latina ist nicht gänzlich identisch mit dem Text, der für die Göttinger kritische Edition rekonstruiert wurde, sondern sie hat schon Überarbeitungen erfahren. Ebenfalls bietet bereits der prämasoretische Text Anzeichen dafür, dass er rezensiert wurde, um größere Klarheit im Textverständnis zu erzielen. Bei einem erheblichen Teil der Lesartendifferenzen handelt es sich somit um das Ergebnis innergriechischer und innerlateinischer Textentwicklungen. Wie so oft, so führt also auch dieser Versuch, die Textgeschichte eines biblischen Buches zu rekonstruieren, nicht zu einer einfachen, monokausalen Lösung; vielmehr wird deutlich, dass die Überlieferung des Textes äußerst komplex und vielschichtig ist.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis (Kapitel 7, 561–614) und ein Anhang (Kapitel 8, 615–742), der eine Synopse der drei Versionen des Jeremiabuches und mehrere Register umfasst, schließen das Werk ab.
Die Einzelanalysen nehmen einen breiten Raum ein, weil P. mit der ausführlichen Beschreibung seines Gedankenganges dem Leser die Möglichkeit gibt, die Argumentation bis ins Detail nachzuvollziehen. Er führt die signifikanten Textpassagen in allen relevanten Sprachen auf, unterscheidet innerhalb der griechischen Überlieferung die verschiedenen Textformen und zieht weitere Sekundärübersetzungen, vor allem die äthiopische, heran. Selbst scheinbar offensichtliche Beobachtungen hinterfragt er und bemüht sich um eine objektive Beurteilung der Fakten. Seine stringente Argumentation, in der er alle ihm zugänglichen Beobachtungen auswertet, führt nicht nur zu einem tragfähigen Ergebnis, sondern sie bietet auch die Grundlage für eine weitere wissenschaftliche Diskussion. In kritischen Texteditionen kann der Leser kondensiert die Ergeb nisse der Überlegungen ablesen, während ihm der Argumenta-tionsgang verborgen bleibt. Auch in dieser Hinsicht ist P.s Werk er­hellend.
Die Synopse der Texttraditionen bietet eine hervorragende Grundlage für die Edition des Textes innerhalb der Ausgabe des Beuroner Vetus-Latina-Instituts. P. bietet dem Leser mit diesem vorbildlichen Werk kaum einen Ansatzpunkt zur Kritik. Gewöhnungsbedürftig sind die verwendeten allgemeinen Abkürzungen, deren Aufschlüsselung innerhalb des Buches etwas versteckt ist. Außerdem ist trotz der geringfügigen Verbesserungen zu fragen, ob es nötig gewesen ist, die lange Liste der Abkürzungen der Väterzitate aufzuführen, statt auf den von Frede und Gryson herausgegebenen Band, dem sie entnommen sind, zu verweisen.
Insgesamt zeigt das vorliegende Werk die Bedeutung der Vetus Latina für die Erforschung der biblischen Textgeschichte und leis-tet einen entscheidenden Beitrag zu der Diskussion über die Priorität der verschiedenen Versionen des Jeremiabuches. Wer sich mit der Textgeschichte des Jeremiabuches beschäftigt, kommt an dieser Studie nicht vorbei.