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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

731–733

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ego, Beate, Gause, Ute, Margolin, Ron, and Dalit Rom-Shiloni [Eds.]

Titel/Untertitel:

Theodicy and Protest. Jewish and Christian Perspectives.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 268 S. = Studien zu Kirche und Israel. Neue Folge, 13. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-05445-9.

Rezensent:

Wolfram Kinzig

Der Band ist das Ergebnis einer Konferenz, die bereits im Jahr 2014 an der Universität Tel Aviv im Rahmen einer Kooperation des Department of Hebrew Culture Studies der dortigen Universität und den beiden theologischen Fakultäten der Ruhr-Universität Bochum zum Thema »Theodizee und Protest« stattfand. Den Expertisen der beteiligten Gelehrten beider Seiten entsprechend sind die achtzehn relativ schlanken Beiträge in vier Abteilungen untergliedert: »Hebräische Bibel«, »Jüdisches und christliches Denken in der Antike«, »Jüdisches und christliches Denken im 20. Jahrhundert« und in einen letzten Abschnitt mit dem etwas unscharfen Titel »Persönliche Erfahrung, Predigt, Seelsorge und Recht«. Es ist allen Beteiligten hoch anzurechnen, dass sie sich über das schwierige Thema, welches beide christliche Konfessionen und die religiösen Traditionen des Judentums und des Christentums verbindet, aber jeweils durchaus unterschiedliche Behandlungen erfährt, intensiv ausgetauscht haben. Dieses Verdienst lässt darüber hinwegsehen, dass der Band Lücken aufweist, die vor allem den Kirchenhistoriker schmerzen: Entgegen der Ankündigung auf S. 7 gibt es keine eingehendere Darstellung der rabbinischen Literatur und nur einen Beitrag zur Alten Kirche, und die Periode zwischen der Antike und dem 20. Jh., genauer: der Zeit nach der Shoah, wird lediglich in Ute Gauses Beitrag über Luther und Bonhoeffer gestreift.
Doch was wird den am Thema Interessierten geboten? In der ersten Abteilung behandelt Yairah Amit eingangs den Zusammenhang von Theodizee und Protest in der Hiob-Geschichte. Dieser biblische Text – so ihre These – funktioniere auf mehreren Ebenen und erreiche so unterschiedliche Rezipientengruppen. Dazu zähle eine nur für Intellektuelle sichtbare Ebene des Protests: Hiob leide, weil Gott es zulasse, dass Satan Hiob teste. Gott sei so verantwortlich für eine ungerechte Handlung, womit der Verfasser eine versteckte Kritik an der Vorstellung des göttlichen Tests äußere. Die Naivität des Textes sei demnach nur vorgetäuscht. Frank H. Polak untersucht den Bericht über die Versklavung und das Leiden des Volkes Israel in Ägypten und über die Jugend Moses in den Eingangskapiteln des Buches Exodus. Erst in 2,24 f. werde die bevorstehende göttliche Intervention angekündigt. Die Verse zuvor bereiteten sie vor, indem sie in subtiler Weise gegen das Schicksal der Israeliten protestierten, aber auch bereits eine geheime Verheißung beinhalteten. Yair Hoffman untersucht das Schlusskapitel des Michabuches, welches vom Redaktor aus vorgegebenen Stü-cken zusammengestellt sei. Theodizee sei darin ein zentrales Thema, aber es beinhalte auch eine bedingte Erlösungsverheißung, die von der Buße des Volkes Israel abhänge. Dalit Rom-Shiloni stellt Jer 21,1–7 und Thr 2 in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sie möchte die unterschiedlichen biblischen Stimmen als Teil eines Gesamtdiskurses (»theodical discourse«) sehen, in dem es in diversen Konfigurationen immer um Versöhnung mit Gott und um die Rechtfertigung seines Handelns angesichts von Krisensituationen gehe.
In der zweiten Abteilung behandeln zwei Aufsätze (von Beate Ego und Jacob Licht) die zwischentestamentliche Apokalyptik, wobei der ursprünglich hebräische Beitrag Lichts bereits aus dem Jahre 1983 stammt und von Noam Mizrahi ins Englische übersetzt und eingeleitet wurde. Ego widmet sich der Tierapokalypse im äthiopischen Henochbuch (85–90), wo das gegenwärtige Elend En­gelwesen angelastet und Gott so exkulpiert wird, während Licht die Passage 2Baruch 21,13–17 diskutiert, in der er Zweifel des Verfassers am »Funktionieren« der apokalyptischen Weltdeutung (eschatologische Belohnung für gegenwärtige irdische Leiden) aufbrechen sieht. Peter Wick identifiziert im Neuen Testament zwei Konzeptionen des Todes: Tod als verderbenbringende Macht, über die Gott triumphiert, und Tod als eine »konstitutive Voraussetzung neuen Lebens« oder »Tür zum Leben« (106), eine Vorstellung, die von den Mysterienreligionen beeinflusst sei. Beide Konzeptionen ermöglichten in unterschiedlicher Weise einen produktiven Umgang mit Kontingenzerfahrungen. Katharina Greschat zeichnet Diskussionen im Rom des 2. Jh.s um die Frage nach, ob dem Kosmos ein oder zwei Prinzipien zugrunde liegen, und stellt in diesem Zusammenhang sowohl Leistung als auch Schwäche der Konzeption des Markioniten Apelles dar.
Abteilung III wird durch einen Beitrag von Christian Weidemann eröffnet, der Argumente für und gegen die Existenz Gottes diskutiert und unterschiedliche Theodizee-Modelle durchspielt. Gunda Werner betrachtet in einer »abrahamischen Perspektive« (143) das Problem einer Theologie nach Auschwitz. Man könne über Gott in der Moderne nicht reden, ohne über Auschwitz zu sprechen, und werde damit automatisch auf das Theodizeeproblem gestoßen, mit dem sich zeitgenössische Theologen des Judentums, des Christentums und des Islam intensiv auseinandergesetzt hätten. Einen möglichen Verbindungspunkt zwischen den drei »abrahamischen Religionen« könne die Vorstellung einer »offenen« und darum riskanten Geschichte bilden, die Gott in seinem Schöpfungsakt eröffnet habe. Ron Margolin beschreibt zwei unterschiedliche jüdische Reaktionen auf den Holocaust: Hans Jonas, der einen theologischen »Sinn« des Ereignisses bestreite, und Menachem Mendel Shneerson (den sogenannten Lubawitscher Rebbe), der eine Erklärung des Geschehens gebe, die auf einem Leib-Seele-Dualismus basiere und martyriologische Motive aufweise. Barbara U. Meyer diskutiert demgegenüber christliche Versuche, mit der Shoah umzugehen. Sie meint, die Theodizeefrage nehme bei den christlichen Theologen Alice und Roy Eckardt, Paul van Buren und Friedrich-Wilhelm Marquardt keinen zentralen Platz ein. Bei den jüdischen Denkern Emil Fackenheim, Richard Rubinstein und Irving Greenberg werde hingegen geradezu eine »Antitheodizee« vertreten, mit der sich die christliche Theologie stärker auseinandersetzen müsse, wobei Martha Nussbaums Konzept einer »intelligence of emotions« hilfreich sein könne. Günter Thomas vertritt die These, jüdische und christliche Theologen hätten dazu tendiert, menschliche Klage gegenüber Gott nicht zuzulassen oder für theologisch sinnlos zu erachten, und exemplifiziert dies an Schriften von Philo von Alexandrien, Karl Barth, Jürgen Moltmann und Hans Jonas. Demgegenüber bedürfe es einer »konstruktiven Theologie der Klage und der göttlichen Antwortfähigkeit (responsiveness)« (214).
In der vierten Abteilung untersucht Ute Gause zunächst, wie Luther und Bonhoeffer mit der Theodizeefrage in existenzieller Be­drängnis umgegangen sind. Traugott Jähnichen sieht sodann im Lichte der Katastrophen des 20. Jh.s klassische Theodizeekonzeptionen als obsolet an und fordert eine neue »Spiritualität der Klage« sowie ein Aktionsprogramm »zur Bekämpfung dessen, was nicht sein sollte« (230). Isolde Karle diskutiert die Bedeutung der Thematik im Zusammenhang pastoraler Praxis am Beispiel einer Krebspatientin. Das »Unerklärliche« sei in diesem Kontext nicht »das Ende der Kommunikation […], sondern ihr Anfang« (239). Judith Hahn schließlich erörtert die Theodizee vor dem Hintergrund einer forensischen Theologie, die ihren Ausgang von Kants Rede vom »Gerichtshof der Vernunft« nimmt. Jeder Versuch, die Theodizeefrage auf philosophischem Wege zu lösen, sei zum Scheitern verurteilt. Gleiches gelte für den Rückgriff auf die hebräische Bibel. Dennoch lasse sich an der Hiob-Geschichte erkennen, dass Hiobs Protest einen Kontakt zu Gott herstelle: Gott erkläre sein Handeln nicht, aber er antworte auf diesen Protest, was sich im Rahmen einer forensischen Bildsprache erklären lasse: Hiob bringe Gott vor Gericht, und dieser lasse Hiob gewähren. Dementsprechend plädiert die Verfasserin auch für ein streng theologisches Verständnis kirchlicher Gerichtsbarkeit.
Wie mir scheint, verstehen Verfasserinnen und Verfasser im Einzelnen unter »Theodizee« recht unterschiedliche Dinge. Dementsprechend vielfältig fallen auch ihre Darstellungen des Verhältnisses von »Theodizee und Protest« aus, was sich sogar im Duktus der Aufsätze niederschlägt, der von der kühlen logischen Analyse bei Christian Weidemann zu stark appellativ ausgerichteten Beiträgen (bei Gunda Werner und Barbara U. Meyer) reicht.
Leider fehlen in dem ansonsten sorgfältig produzierten Band die Register.