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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

729–731

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Collins, John J.

Titel/Untertitel:

The Invention of Judaism. Torah and Jewish Identity from Deuteronomy to Paul.

Verlag:

Berkeley u. a.: University of California Press 2017. VII, 319 S. = Taubman Lectures in Jewish Studies, 7. Kart. US$ 29,95. ISBN 978-0-52029412-7.

Rezensent:

Michael Tilly

In seiner aus einer Reihe von universitären Vorträgen hervorgegangenen Monographie unternimmt John J. Collins – Holmes-Professor für Altes Testament an der Yale Divinity School – den Versuch, anhand einer Reihe ausgewählter Beispiele wesentliche Linien der Rezeption der Tora von der Exilszeit bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels nachzuzeichnen.
In seiner Einführung (1–19) behandelt C. zunächst das strittige Problem einer sachgemäßen Wiedergabe des griechischen Terminus Ἰουδαῖος in antiken jüdischen Texten, die auf die Krise unter Antiochos IV. Epiphanes Bezug nehmen. Seines Erachtens sei die alternative Deutung des Begriffs entweder als ethnische oder als religiöse Bezeichnung nicht sachgemäß. Zwar konnte jüdische Identität stets auf verschiedene Weise konstruiert werden, aber keine Form des antiken Judentums, auch nicht in der Diaspora, habe vollständig auf fundierende Bezugnahmen auf die genealogische Herkunft und das erinnerte Heimatland verzichtet: »The religious and cultural aspect of Judaism was never entirely separated from the ethnic ties of land and blood« (19). Das erste Kapitel des Buches (21–43) befasst sich mit dem Deuteronomium, das die jüdische Identität von Anfang an in einer bestimmten Weise prägen sollte. So bezeichnet C. das Buch als einen »comprehensive attempt to define an ethnic culture in terms of a law that is claimed to be ancestral« (39). Als Nukleus der Mosetora sei das deuteronomistische Gesetz mit mehrheitlich priesterlichem Traditionsgut sukzessive zur Mosetora als einem differente Einzelelemente verbindenden »composite document« verschmolzen, welches schließlich zum »official statement of Judahite ancestral law« wurde (43). Im zweiten Kapitel (44–61) thematisiert C. die Entwicklungen während der Perserzeit, an deren Anfang noch keine merkliche Beziehung zwischen der judäischen Identität und der Orientierung an einer (oder gar an der) Tora festzustellen sei, was insbesondere durch die Elephantine-Papyri attestiert werde (52), und an deren Ende die durch Esra beförderte Geltung des Mosegesetzes als dominanter Ausdruck jüdischer Identität und als »normative expression of the Judean way of life« (60) stehe, wodurch die Selbstwahrnehmung des Judentums als spezifisch religiöse Daseinsbestimmung und auch die Konversion zu dieser Religion ihrerseits erst möglich wurden.
Im dritten Kapitel (62–79) geht es um das Fortwirken nichtmosaischer Traditionen während der frühhellenistischen Zeit. Untersucht werden hierbei Texte wie die ältere Weisheit, die als Überlieferungen eines »Enochic Judaism« (70) identifizierbaren apokalyptischen Texte, und die Erzähltraditionen der östlichen Diaspora, welche allesamt »not originally focussed on the Torah of Moses« (75 f.) seien, sondern erst nachträglich und nur selektiv mit dieser verbunden wurden. Das vierte Kapitel (80–96) fragt gezielt danach, wie die Erzählüberlieferung der Bücher Genesis und Exodus in der späten Perserzeit und seit dem unmittelbaren Kontakt des Judentums mit der griechischen Welt seit Alexander d. Gr. gedeutet und appliziert wurde. Hierbei nimmt C. vor allem die Handschriftenfunde vom Toten Meer, jüngere Weisheitstexte und das Tobitbuch in den Blick. Durchweg zeige sich in allen diesen Texten eine akzentuierte Deutung des rezipierten Erzählguts nicht als Begründung oder Illustration von Einzelgesetzen, sondern als Beispiel und Weisung insbesondere hinsichtlich rechter und reiner Lebensführung: »The emphasis is on Torah as wisdom rather than as law« (96). Thema des fünften Kapitels (97–113) ist die gegenläufige Betonung der Mose-tora als verbindlicher und orientierungsstiftender Grundlage so­wohl der öffentlichen Ordnung als auch der individuellen Le­bensgestaltung sowie als – nach außen abgrenzende und nach innen konsolidierende – Basis der jüdischen Identität während der Hasmonäerzeit. Infolge des gescheiterten Versuchs der hellenistischen Reformer zur Zeit des Antiochos IV., verschiedene grundlegende Be­stimmungen der Tora mit Gewalt zu korrigieren, sei seit dem 2. Jh. v. Chr. ein religiöser und kultureller Dissimilierungsprozess angeschoben worden, der einerseits zur Ausprägung eines »common Judaism« in Judäa geführt und andererseits die Abspaltung heterodoxer religiöser Sondergemeinschaften provoziert habe (107).
Im sechsten Kapitel (114–133) geht J. dem komplexen Verhältnis von Tora und Apokalyptik in einer Reihe von Texten aus der »Bibliothek« von Qumran nach. Insbesondere in den »Sektenschriften«, deren Inhalte den besonderen Blickwinkel ihrer Trägerkreise repräsentieren, würden einerseits die Einzelgesetze der Tora gründlich interpretiert bzw. appliziert und andererseits überkommene deuteronomistische und »bundesnomistische« Konzepte von individuell und außergeschichtlich gedachten Heilshoffnungen überlagert. Das siebte Kapitel (134–158) skizziert zunächst die erkennbar »offene« und auch an Nichtjuden gerichtete aktualisierende Interpretation der Mosetora in Texten aus der westlichen Diaspora, wo Juden mehrheitlich in einer multikulturell und multireligiös geprägten Umwelt lebten, und zeigt sodann in exkursartiger Weise auf, wie gerade in der alexandrinisch-jüdischen Schrift »Joseph und Aseneth« die Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden mit dem Ethos der Gottesfurcht als grundlegendem Maßstab der jüdischen »ethno-religion« (158) verbunden wurden. Das abschließende achte Kapitel (159–181) fokussiert das paulinische Gesetzesverständnis und stellt dabei die Frage, welchen Beitrag die Ergebnisse der vorangehenden Kapitel zu dessen Erhellung leisten können. Eine hilfreiche Zusammenfassung der neueren und aktuellen Diskussion von Philipp Vielhauer über James D. G. Dunn und Ed P. Sanders bis John Barclay und Daniel Boyarin mündet in die zutreffende Beobachtung, dass der Heidenmissionar zwar einerseits kein Antinomist war, aber andererseits die Toraobservanz nunmehr grundsätzlich durch den Christusglauben der ἐκκλησία als »neues Israel« bestimmt sah. Gerade der »offene« Umgang des Diasporajudentums mit der Mosetora habe sein gleichsam pragmatisches Toraverständnis geprägt: »His observance depended on the context in which he was operating« (164). Indem Paulus aber die Berufung auf die gemeinsame heilsgeschichtliche Herkunft der Christen ihrer gemeinsamen neuen Existenz ἐν Χριστῷ grundlegend unterordnete, sei die »Trennung der Wege« unvermeidlich geworden: »Those who followed Paul would base their identity not on the ancestral laws of the Judeans but on faith in Christ« (181). Der kurze Epilog (183–187) enthält eine konzise Zusammenfassung der Einzelergebnisse und einen Ausblick auf die Konturen gegenwär-tiger jüdischer Identität. Beigegeben sind Endnoten (189–254), ein Literaturverzeichnis (255–299) sowie Register der Stellen (301–312) und modernen Autoren (313–319).
Die lesenswerte Untersuchung enthält eine ebenso prägnante wie plausible Überblicksdarstellung zentraler Gesichtspunkte der Voraussetzungen und Ausgestaltungen des Toraverständnisses innerhalb wesentlicher Bereiche des antiken Judentums und in einem bestimmenden Stratum des frühen Christentums.