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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

725–726

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Poya, Abbas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sharia and Justice. An Ethical, Legal, Political, and Cross-cultural Approach.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. VI, 181. Geb. EUR 51,95. ISBN 978-3-11-045961-6.

Rezensent:

Tilman Nagel

Unter diesem anspruchsvollen Titel werden dem Leser sieben Aufsätze von sechs Autoren präsentiert. Deren Anliegen ist es, die Vereinbarkeit des auf Allahs Setzungen fußenden islamischen Rechts mit dem menschengemachten Recht des säkularen Staates plausibel zu machen. Zu diesem Zweck sollen nicht die so unterschiedlichen Grundlagen beider Rechtssysteme in den Blick genommen werden, sondern ihr gemeinsames Ziel: die Schaffung von Gerechtigkeit. Es gebe keine Kultur, die sich der Schaffung von Ungerechtigkeit verschreibe, so Mathias Rohe in seinem Beitrag (Islamic Law and Justice).
Im ersten Aufsatz (Ordinary Justice: A Theology of Islamic Law as a Social Contract) zeigt Rumee Ahmed, dass die frühe hanafitische Rechtsschule davon überzeugt war, dass einzig Allah in seinem Schöpfungshandeln wirklich gerecht vorgehe. Das Handeln des Menschen sei höchstens annäherungsweise gerecht und daher nach innerweltlichen Kriterien zu bewerten. Als gewichtigen Beleg hierfür präsentiert Rumee Ahmed die hanafitische Lehre, dass bestimmte Handlungen eines Muslims in einem nicht der islamischen Macht unterstehenden Gebiet anders beurteilt werden als im »Gebiet des Islams«. Was aber geht hieraus anderes hervor als die Tatsache, dass es nach hanafitischer Auffassung eben keine unabhängig von der Zugehörigkeit zum Islam bestehende Rechtsgenossenschaft gibt, die die Grundlage einer allgemeinen Gerechtigkeit bilden könnte. – Dass Gerechtigkeit in den Augen des Muslims einzig nach Maßgabe der gottgegebenen Normen statthaben kann, bleibt unerörtert.
Mit Schweigen wird ebenfalls übergangen, dass die nach der hanafitischen aufkommenden großen Rechtsschulen das in ihren Augen bestürzende Zurückbleiben der Rechtswirklichkeit hinter den gottgegebenen Normen durch eine strenge Bindung der Rechtspflege an den Koran und an das inzwischen verfügbare Prophetenhadith aufzuheben suchen. Diesem Trend konnten sich auch die Hanafiten nicht widersetzen, so dass einer ihrer berühmten Gelehrten feststellte, Abū Ḥanīfa (gest. 767) habe seine Lehren vom »erwählten Propheten« übernommen, dieser von Gabriel und dieser von Allah. Bedauerlicherweise wird somit in den Beiträgen dieses Buches genau das ausgeblendet, was die Scharia seit etwa 1200 Jahren in den Augen der erdrückenden Mehrheit der Muslime ausmacht: ihre gottgegebene Wahrheits- und Gerechtigkeitsgarantie, wodurch sie allen anderen Rechtssystemen überlegen sein soll.
Unter dieser durch den Kalifen als den Nachfolgern des Propheten verbürgten Garantie steht die von Abbas Poya beschriebene umfassende Gerechtigkeit, die laut al-Mawardi (gest. 1058) für das Gedeihen des Diesseits unabdingbar ist (Conditions for a Good World). Desgleichen ist das von Werner Ende (Justice as a Political Principle in Islam) erörterte Prinzip der Gerechtigkeit in politischen Bewegungen nicht als »weltlich« misszuverstehen. Ziba Mir-Hosseinis Aufsatz »Justice and Equality and Muslim Family Laws« beschreibt anschaulich, welche Schwierigkeiten sich bis heute vor Gelehrten auftürmen, die in den Frauenrechten Abstand zu den vermeintlich ewig gültigen göttlichen Normen gewinnen wollen.
Eine offensive Auslegung des Dschihad werde im modernen Nationalstaat nicht mehr als gerecht empfunden, postuliert Abbas Poya (Jihad and Just War Theory). Gerecht sei es, das Tragen des Kopftuchs bei der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben zu erlauben, wenn die Trägerin versichert, dies geschehe nicht in missionarischer Absicht, so Bernd Ladwig (The Islamic Veil and Justice). Islamische Gerechtigkeit stimmt mit der westlichen, auf das Individuum bezogenen Auslegung des Begriffs überein, soll man diesen beiden Aufsätzen entnehmen. Dieser Gedanke prägt auch Rohes schon erwähnten Beitrag. In der islamischen Rechtspflege entdeckt er überall das Prinzip Gerechtigkeit, verstanden als ein dem Menschen anheimgegebenes Gut. Dabei schießt er freilich über das Ziel hinaus. Alle Funktionsträger müssten nach schariatischer Auffassung gerecht sein, schreibt er und verwechselt den schariatischen Terminus technicus der Unbescholtenheit mit dem der Gerechtigkeit und »beweist« u. a. auf diese Weise seine Ausgangsthese. Quer zu seinen Intentionen steht freilich das Wort eines pakistanischen Justizministers, das er zitiert. Dieser klagt darüber, dass jede Ab­weichung von den überkommenen schariatischen Grundsätzen, mithin jede diesseitsbezogene Gerechtigkeit, als Häresie verteufelt werde. Wie Rohe unmittelbar danach in Aussicht stellen kann, dass die Scharia und das Recht des säkularen Staates kompatibel sein könnten, erschließt sich dem Leser nur, wenn er wie die Autoren dieses Buches zu einem Sacrificium intellectus bereit ist und das, was das islamische Recht ausmacht und was es nach Überzeugung der erdrückenden Mehrheit der Muslime ist, mit Stillschweigen übergeht.